
Sprachtransfer
Was versteht man unter Sprachtransfer? Wie können Lernende von ihr profitieren und welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein? Antworten auf diese Fragen liefert dieses Basiswissen.
Definition
Sprachtransfer meint den Einfluss, den die verschiedenen Sprachen einer Person aufeinander ausüben können. Sprecherinnen und Sprecher übernehmen Elemente oder Fähigkeiten aus einer Sprache – z. B. grammatische Strukturen, Wörter bzw. Wortbedeutungen oder Lesefähigkeiten – und verwenden sie in einer anderen Sprache.
Sprachtransfer und Sprachenlernen
Sprachtransfer ist Grundlage für den Erwerb und das Lernen von Zweit- und Fremdsprachen. Lernende greifen dabei immer auf die Sprachen zurück, die sie bereits erworben haben. Diese Sprachen können sowohl einen günstigen Einfluss auf den Erwerb der neuen Sprache haben (positiver Transfer), als auch einen hinderlichen (negativer Transfer). Wenn jemand zum Beispiel das grammatische Geschlecht eines Substantivs in eine andere Sprache überträgt, kann das zu richtigen Formen (positiver Transfer: dt. der Hund; frz. le chien) oder zu falschen Formen (negativer Transfer: dt. der Tisch; frz. *le table – korrekt wäre: la table) führen. Negativer Transfer fällt häufiger und schneller auf, weil er zu Fehlern (Interferenzen) führt. Bedeutender sind aber die positiven Rückgriffe auf andere Sprachen, weil sie das Sprachenlernen unterstützen.
Das gilt insbesondere für sprachliche Fähigkeiten, die kognitiv anspruchsvoll sind, wie z. B. das Lesen und Schreiben. Sie beruhen auf einer sprachenübergreifenden Fähigkeitsbasis, die Lernende in verschiedenen Sprachen anwenden können (Cummins, 2010; Berthele & Lambelet, 2018). Das bedeutet: Wenn Lernende solche Fähigkeiten in einer Sprache aufbauen, können sie diese in eine andere Sprache übertragen. Somit verbessern Lernende ihre Fähigkeiten z. B. im Lesen nicht nur in der Sprache, in der sie Leseunterricht erhalten, sondern auch in anderen Sprachen, in denen sie Texte lesen. Diesen positiven Zusammenhang von Fähigkeiten in verschiedenen Sprachen bezeichnet man als Interdependenz (Cummins, 2010).
Transferinhalte: übertragene Elemente und Fähigkeiten
Lernende können unterschiedliche Elemente oder Fähigkeiten von einer in die andere Sprache über- tragen oder sprachenübergreifend nutzen. Dazu gehören (vgl. Cummins, 2010):
- sprachliche Elemente wie Wörter (Lexik), deren Bedeutung (Semantik) oder grammatische Strukturen (Morphologie, Syntax);
- das Wissen, dass Wörter aus einzelnen Lauten aufgebaut sind (phonologisches Bewusstsein);
- der Gebrauch von Sprache (Pragmatik) bezogenauf z. B. Formen der Gesprächsführung, Einsatz von Mimik und Gestik;
- Fähigkeiten wie das Lesen oder Schreiben;
- inhaltliches Wissen (Konzepte, Weltwissen) und
- Strategien zum Lernen und zum Umgang mit Sprache (metakognitive und metalinguistische Strategien) wie z. B. Mindmap als Methode zur Visualisierung oder Strategien zum Vokabellernen.
Voraussetzungen für den Transfer und Transferrichtung
Damit Lernende Fähigkeiten, Wissen oder Strukturen zwischen Sprachen übertragen können, müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein. Erstens müssen sie eine Fähigkeit oder Struktur in einer Sprache erworben haben, bevor sie sie in eine andere Sprache übertragen können. Zweitens brauchen die Lernenden ausreichend Kontakt mit dieser anderen Sprache und Kontexte, in denen sie die Fähigkeiten oder Struktur anwenden können. Beispielsweise werden sie Lesefähigkeiten nur dann übertragen können, wenn sie auch in der anderen Sprache Texte lesen. Drittens können unterrichtliche Maßnahmen den Transfer begünstigen. Das gilt z. B. für Strategien zum Schreiben oder Hörverstehen.
Die Reihenfolge, in der Lernende die Sprachen erworben haben, beeinflusst den Transfer zwischen den Sprachen nicht. So sind sowohl Übernahmen von einer Erstsprache in eine Zweit- oder Fremdsprache denkbar als auch umgekehrt. Allerdings übertragen Lernende Inhalte häufiger von einer besser beherrschten in eine weniger gut beherrschte Sprache. Das liegt daran, dass sie in dieser Sprache mehr Elemente und Fähigkeiten erworben haben, die sie übertragen können. Welche Sprache die besser beherrschte ist, kann sich für verschiedene Fähigkeiten, Strukturen und Wissensbestände unterscheiden. Beispielsweise verfügen Schülerinnen und Schüler häufig über ausgeprägte mündliche Fähigkeiten in ihrer Herkunftssprache. Lese- oder Schreibfähigkeiten hingegen sind meistens im Deutschen stärker, wenn sie die Schule seit der ersten Klasse in Deutschland besuchen.
Sprachtransfer und (sprachliche) Bildung
Der Rückgriff auf Kenntnisse und Fähigkeiten in anderen Sprachen kann Lernende in ihren Sprachlernprozessen sowie den Erwerb weiterer Fremd- und Zweitsprachen fördern. Lehrkräfte können Schülerinnen und Schüler dabei unterstützen, indem sie explizit auf andere Sprachen verweisen, Ähnlichkeiten zwischen den Sprachen aufzeigen und die Lernenden ermutigen, Fähigkeiten in einer neuen bzw. anderen Sprache anzuwenden.
Außerdem können Lernende von Sprachtransfer profitieren, wenn sie kognitiv anspruchsvolle Fähigkeiten, wie das Verfassen von Texten, zuerst in einer besser beherrschten Sprache aufbauen. Deshalb ist Sprachtransfer ein häufiges Argument dafür, dass Lernende in ihrer Herkunftssprache unterrichtet werden sollen, damit sie die erworbenen Fähigkeiten dann ins Deutsche übertragen können. Allerdings ist die Erwartung, dass Lernende durch den Unterricht in der Herkunftssprache zugleich ihre Fähigkeiten im Deutschen verbessern, nicht immer gerechtfertigt. Gerade bei schriftsprachlichen Fähigkeiten, wie dem Lesen oder Schreiben, sind Lernende häufig im Deutschen besser, wenn sie in Deutschland eingeschult wurden und mehr auf Deutsch lesen und schreiben. Dem Herkunftssprachenunterricht kommt in dem Fall die wichtige Funktion zu, dass er Lernenden einen Kontext bietet, in dem sie auch in ihrer Herkunftssprache Lese- und Schreibfähigkeiten aufbauen und dabei auf Fähigkeiten aus dem Deutschen zurückgreifen können. Insgesamt können die sprachlichen Fächer Kontexte schaffen, in denen Lernende die Möglichkeit haben, sprachliches Wissen und Fähigkeiten aus einer anderen Sprache anzuwenden und weiterzuentwickeln.
Das Basiswissen Sprachtransfer als Download.
Autorin
Marie-Christin Reichert
Dieser Text darf, unter Einhaltung der gängigen Zitierregeln und mit Angabe der Quelle, gern weiterverwendet werden: Reichert, Marie-Christin (2022): Sprachtransfer. Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache (Basiswissen sprachliche Bildung).
Literatur
Cummins, Jim (2010). Language Support for Pupils from Families with Migration Backgrounds: Challenging Monolingual Instructional Assumptions. In C. Benholz, G. Kniffka & E. Winters-Ohle (Hrsg.), Fachliche und sprachliche Förderung von Schülern mit Migrationsgeschichte. Beiträge des Mercator-Symposions im Rahmen des 15. AILA-Weltkongresses “Mehrsprachigkeit: Herausforderungen und Chancen“ (1. Aufl., S. 13–23). s.l.: Waxmann Verlag GmbH.>
Weiterführende Literatur/Informationen
Odlin, Terence (2012). Crosslinguistic Influence in Second Language Acquisition. In Carol A. Chapelle (Hrsg.), The Encyclopedia of Applied Linguistics (Bd. 24, S. 1–7). Wiley.>
Bereits erschienen: Basiswissen sprachliche Bildung
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