11.04.2016
Bericht

Mikroprozesse sprachlichen Handelns

Sprachliches und fachliches Lernen sind untrennbar miteinander verbunden. In einem Symposium im Rahmen der Jahrestagung 2016 wurden empirische Studien und theoretische Beiträge vorgestellt und diskutiert, die eine theoriegeleitete Beschreibung, Erklärung und Optimierung von sprachlichen Lehr-Lern-Prozessen auf der Mikroebene des Unterrichts fokussieren.

Neuere didaktische Ansätze wie sprachsensibler (Fach-)Unterricht oder Scaffolding greifen diesen Umstand auf. Sie bieten zunehmend mehr Methoden und Techniken, um Sprachbildung und -förderung in den Regelunterricht oder in Klassen für neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler zu integrieren. In den letzten Jahren hat sich die Wissenschaft vorwiegend mit Unterrichtskonzepten und Unterrichtsorganisation aus der Perspektive der heterogenen Klassen beschäftigt. Gleichermaßen wichtig ist es jedoch, eng umrissene Unterrichtssequenzen genauer, quasi unter der sprachwissenschaftlichen und -didaktischen Lupe, zu betrachten.

Der erste Teil des Symposiums widmete sich dabei der Analyse von sprachlichen Prozessen auf der Mikroebene, während der zweite die Beeinflussung von solchen Prozessen in den Vordergrund stellte. Hier finden Sie die Abstracts der Beiträge in voller Länge.

Kommunikative Konstruktionen 'mündlicher Texte' durch Lehrpersonen und Kinder – rekonstruierende Sequenzanalysen von Interaktionen in Deutschschweizer Kindergärten

Dr. Dieter Isler (Pädagogische Hochschule Thurgau)
Dr. Esther Wiesner (Pädagogische Hochschule Fachhochschule Nordwestschweiz)
Sibylle Künzli (Pädagogische Hochschule Zürich)

Der Kindergarten bildet in der Deutschschweiz als erster formaler Lernort den bildungsbio­grafischen Transitionsraum zwischen Frühbereich (Familie, Kita, Spielgruppe) und Schule. Kinder sind je nach familiärer Herkunft und Betreuungssituationen mehr oder weniger mit «schulförmigen» Sprachhandlungen (wie Erzählen, Erklären, Argumentieren) und Gesprächssituationen (wie Klassenkreisen oder didaktisierten Lehr-Lernarrangements) vertraut. Im Sinne einer „rationalen Pädagogik“ (Bourdieu & Passeron 1971) muss der Kindergarten an die alltäglichen Spracher­fahrungen der Kinder anschliessen und sie bei der Aneignung schulisch-bildungssprachlicher Formen unterstützen. Im Nationalfonds-Projekt „ProSpiK – Prozesse der Sprachförderung im Kindergarten“ wurde deshalb der kommunikative Alltag des Kindergartens im Hinblick auf erwerbsunterstützendes Handeln der Lehrpersonen untersucht. Dabei wurden folgende Fragestellungen bearbeitet:

  1. Welche kommunikativen Formen eines «schulnahen» Sprachgebrauchs sind im Kindergarten anzutreffen?
  2. Wie werden sie von den Lehrpersonen und Kindern interaktiv hergestellt?
  3. (Wie) wird im Rahmen solcher Interaktionen soziale Ungleichheit von den Lehrpersonen und Kindern hergestellt, aufrechterhalten oder abgebaut?

Die Rekonstruktion kommunikativer Konstruktionen (Knoblauch 2013) von Kindern und Lehrpersonen bildet den methodologischen Kern dieses Projekts. Die Lehrpersonen von acht Kindergartenklassen wurden während je einer Woche bei ihren Interaktionen mit Kindern gefilmt und ausgewählte Unterrichtsszenen sequenzanalytisch rekonstruiert. Die Befunde wurden als Memos festgehalten, validiert und durch fallinterne und fallübergreifende Vergleiche zu datenverankerten Konzepten ausgearbeitet.

Im vorgeschlagenen Beitrag soll anhand von Videosequenzen gezeigt werden, wie Lehrpersonen und Kinder "mündliche Texte" als kommunikative Formen ko-konstruieren. Anhand von empirischen Phänomenen werden Interaktionsmerkmale vorgestellt, die das Gelingen anforderungsreicher Sprachhandlungen im Unterrichtsalltag unterstützen. Dazu gehören u.a. die räumlich-körperliche Architektur von Unterrichtsinteraktionen, der Einsatz multimodaler Stützsysteme, die Ausgestaltung von Klassenöffentlichkeit, der Wechsel zwischen Referenzräumen, das Aufgreifen und Aufrechterhalten kindinitiierter Textproduktionen und der Schutz längerdauernder Gesprächsprojekte.

Der Beitrag bezieht sich auf Merkmale bildungssprachförderlicher Interaktionen (Punkt 1 der Ausschreibung), erwerbsunterstützendes Handeln (scaffolding) von Lehrpersonen (5), Gelegenheits­strukturen für anforderungsreiche Sprachhandlungen (3) und Schriftsprachlichkeit im Unterricht (6).

Partizipationsgelegenheiten an bildungssprachlichen Praktiken schaf-fen: Interaktive Verfahren der Inklusion mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler

Vertr.-Prof.Dr. Vivien Heller (Bergische Universität Wuppertal)
Prof.Dr. Uta Quasthoff (TU Dortmund)

Wie können fachliche Unterrichtsgespräche Partizipationsgelegenheiten für sprachlich heterogene Schülerinnen und Schüler schaffen? Der Beitrag untersucht interaktive Verfahren des Differenzierens diskursiver Anforderungen auf der Ebene unterrichtlicher Mikroprozesse. Er fokussiert dabei auf die bildungssprachlichen Praktiken des Erklärens und Argumentierens (Heller & Morek 2015), weil diese wesentliche Ressourcen für die Konstruktion und Darstellung komplexerer fachlicher Zusammenhänge sind.

Die Analysen basieren auf 120 videographierten Deutsch- und Mathematikstunden (in fünf Klassen, zu Beginn des ersten und zweiten Halbjahres des fünften Jahrgangs). Für den Längsschnitt wurden 11 Fokuskinder ausgewählt, die sich hinsichtlich der Erstsprache, der Unterrichtspartizipation sowie der sozioökonomischen Ressourcen des Elternhauses unterscheiden.

Es wurde mikroanalytisch rekonstruiert,  ob und wie im Rahmen unterschiedlicher musterhafter Partizipationsgelegenheiten an diskursiven Prozessen (Quasthoff et al. demn.) individuelle Lerngelegenheiten geschaffen werden. Dabei wurden interaktive Verfahren herauspräpariert, mit denen Lehrkräfte diskursive Anforderungen auf die gezeigte Kompetenz des jeweiligen Kindes zuschneiden. Sodann wurde die Wirksamkeit dieser Verfahren im Hinblick auf eine nachhaltige Partizipation und den Ausbau von Diskurskompetenz längsschnittlich überprüft.

Die Befunde werden im Vergleich zweier mehrsprachiger und hinsichtlich ihrer sprachlichen Ressourcen und Partizipationsprofile besonders heterogenen Kinder vorgestellt. Im Unterschied zu gruppenbezogenen Strategien des Scaffolding (Smit et al. 2013) liefern unsere Befunde zu interaktiven Verfahren des differenziellen Forderns und Unterstützens von Diskursfähigkeiten einen Beitrag zur Inklusion sprachlich heterogener Schülerinnen und Schüler.

Bildungssprachliches Handeln von Kindern mit deutscher und anderer Familiensprache. Eine videobasierte Diskursanalyse zum Beschreiben und Erklären im naturwissenschaftlichen Sachunterricht in der Jahr-gangsstufe 4.

Anne Gadow (Universität Bremen)

Ausgehend von den Ergebnissen internationaler Leistungsstudien, die soziale Herkunft und sprachliche Kompetenz als entscheidend für den Schulerfolg hervorheben, wird in diesem Vortrag eine Studie vorgestellt, die bildungssprachliches Handeln von Schülerinnen und Schülern (SuS) mit deutscher und andere Familiensprache interdisziplinär untersucht. Zentrale Forschungsfragen waren, wie SuS der Jahrgangsstufe 4 bildungssprachliche Handlungen im naturwissenschaftlichen Sachunterricht aus funktionaler und fachlicher Perspektive realisieren und welche Unterschiede sich hierbei zwischen einsprachigen und mehrsprachigen SuS zeigen. Hierfür wurden im Februar 2012 in Paderborn (Nordrhein-Westfalen) insgesamt vier Sachunterrichtsstunden videographiert, in denen 43 ViertklässlerInnen zum ausgewählten Thema Schwimmen und Sinken experimentierten.

Es wurden relevante Konzepte aus der Funktionalen Pragmatik und der Naturwissenschaftsdidaktik trianguliert; durch die Integration der Verfahren wurde ein explizites und lehrbares Verständnis von ausgewählten sprachlichen Handlungen im naturwissenschaftlichen Unterricht angestrebt. Die Analysen der Videodaten zeigten, dass die SuS mehrheitlich das naturwissenschaftliche Phänomen inhaltlich adäquat und funktional zutreffend erklärten. Es ließen sich kaum Unterschiede im bildungssprachlichen Handeln und im Wissensverständnis von einsprachigen und mehrsprachigen SuS feststellen. Hingegen ergaben sich im Hinblick auf die zusätzlich erhobenen Grundschulempfehlungen für die weiterführende Schule deutliche Unterschiede zulasten der mehrsprachigen SuS.

Eine zentrale Erkenntnis dieser Studie ist, dass im Diskurs über „Bildungssprache und Migrationshintergrund“ neben sprachlichen und inhaltlichen Leistungen von einsprachigen und mehrsprachigen SuS verstärkt implizite Lehrererwartungen an die SuS-Gruppen berücksichtigt werden sollten.

Scaffoldingkonzepte für sprachsensiblen Politikunterricht

Prof. Dr. Sabine Manzel & Farina Nagel (Universität Duisburg-Essen)

Wie differenziert müssen Aufgabenstellungen in Politik bzgl. unterschiedlicher Kompetenzniveaus der Schüler/-innen sein? Wie werden Aufgaben ver‐ und bearbeitet?

Das BMBF-Forschungsprojekt „Schreiben im Fachunterricht der Sekundarstufe I unter Einbeziehung des Türkischen (SchriFT)“ richtet den Blick auf die Wechselbeziehung zwischen fachlichen Kompetenzen und Schreibkompetenzen in Deutsch.

Obwohl Textarbeit als zentral in der Vermittlung des Politischen angesehen wird (Weißeno 1993, Detjen 2007), existiert noch keine Grundlagenforschung zur politischen Sprachbildung und Sprachförderung im Politikunterricht (Richter et al. 2010: 186). Explizite Schreibanlässe sind in der Schulpraxis nicht verankert (vgl. Kernlehrpläne NRW-MSW 2011). Dabei wird Politikunterricht stark durch Sprache konstituiert (Oleschko 2013: 193). An diesem Desiderat gilt es anzusetzen.

Basierend auf den quantitativen Erkenntnissen der SchriFT-Hauptuntersuchung (N= ca. 840) werden Interventionsmaßnahmen für sprachsensiblen Politikunterricht entwickelt. Die Testaufgaben der Hauptuntersuchung basieren auf fach- und textsortenspezifischen Schreibaufgaben. Im Fach Politik sollen die Lernenden auf unterschiedlichen kognitiven Niveaus mit einer diskontinuierlichen Textsorte arbeiten. Ein differenziertes Kategoriensystem gibt Auskunft über die fachlichen, fach- und bildungssprachlichen Kompetenzen. Die Interventionsmaßnahmen reagieren beispielsweise auf den bildhaften und wenig abstrakten Umgang mit einem politischen Schaubild. In Fortbildungen sollen Lehrkräfte sensibilisiert werden, diskontinuierliche Textsorten sprachlich zu entlasten. Dafür werden Materialien erstellt und prozessbegleitende Hinweise sowie Kriterien der Bewertung in Zusammenarbeit mit den Lehrkräften entwickelt.

Entschlüsselung von Diagrammen mit Sprach-Fach-Netzen

Prof. Dr. Magdalena Michalak (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Nürnberg)
Beatrice Müller (Universität zu Köln)

Der angemessene Umgang mit diskontinuierlichen Darstellungsformen wie Karten, Tabellen oder Diagrammen ist für den Unterricht aller Fachrichtungen relevant. Insbesondere im Geographieunterricht und in den sozialwissenschaftlichen Fächern gelten solche Repräsentationsformen, die jeweils in die fachspezifischen Kontexte eingebettet sind, als Grundlage für die Vermittlung komplexer Inhalte. Ihre Entschlüsselung setzt fachliche, methodische und sprachliche Kompetenzen voraus, die miteinander in Bezug gesetzt werden müssen (vgl. Michalak, Müller 2015). Untersuchungen zeigen, dass hierfür bereits vorhandene Erfahrungen im Umgang mit Diagrammen ausschlaggebend sind (vgl. Schnotz, Dutke 2004). Zudem wird nachgewiesen, dass der kompetente Umgang mit den DaZ-bezogenen sprachlichen Kenntnissen der Lernenden nicht korreliert, sondern mit der systematischen fächerübergreifenden bzw. fachspezifischen Arbeit mit Diagrammen im Unterricht zusammenhängt (vgl. Kölzer et al. 2015).

In dem Beitrag wird das didaktisch-methodische Modell von Sprach-Fach-Netzen zur Wissensorganisation und Sprachproduktion vorgestellt, welches in der Tradition von Concept-Maps steht (vgl. Novak 1977). An Beispielen wird gezeigt, wie durch diesen Ansatz die fachlichen, methodischen und sprachlichen Fähigkeiten der SchülerInnen beim Umgang mit Diagrammen in leistungsdifferenzierter Form systematisch auf- bzw. ausgebaut werden können. Um der Komplexität unseres Forschungsgegenstands gerecht zu werden, wird für die Entwicklung der Sprach-Fach-Netze ein multiperspektivisches Erhebungsformat gewählt und fortlaufend formativ evaluiert. Dabei werden Fachexperten, Lehramtsstudierende sowie Lernende mit DaF und DaZ in Regel- und Übergangsklasse im Kontext des geographiespezifischen Lernens einbezogen. Basierend auf bisherigen Erkenntnissen werden in dem Vortrag Chancen und Grenzen von Sprach-Fach-Netzen bei der Arbeit mit sprachlich heterogenen Klassen diskutiert.

Entwicklung und Erprobung eines Messinstruments für die Analyse des Scaffoldings in Unterrichtsinteraktionen in der Primarstufe

Nadine Elstrodt, Anja Starke & Ute Ritterfeld (TU Dortmund)

Aktuell werden im Rahmen der BiSS-Initiative (Bildung durch Sprache und Schrift) im Elementar-, Primar- und Sekundarbereich Konzepte zur Verbesserung der durchgängigen Sprachbildung entwickelt und evaluiert. Der Scaffolding-Ansatz von Gibbons (2002) gilt als besonders geeignete Methode für die Sprachförderung im Unterricht (Kniffka, 2012). Zum Einsatz des Scaffoldings in Unterrichtsinteraktionen in der Primarstufe wurden allerdings bisher nur wenige und zudem nur quasi-experimentelle Studien durchgeführt, sodass noch keine belastbare Aussage über die Effektivität von schulischem Scaffolding getroffen werden kann. Das unseres Erachtens bislang beste Messinstrument zur Erfassung des Scaffoldings wurde im niederländischen Raum, auf Basis des Modells des contingent shift framework (Wood et al.1978), von Van de Pol (2012) entwickelt. Bei diesem Modell steht einer der Kernaspekte des Scaffoldings, die Kontingenz, im Fokus. Mit Kontingenz wird die Anpassung der Kontrolle der Lehrkraft an das Verständnis des Kindes bezeichnet. Van de Pol (2012) wendete das Instrument bei einer altershomogenen Gruppe im Sozialkundeunterricht an und kam zu validen Ergebnissen.

Im Rahmen einer Pilotstudie wurde untersucht, inwiefern dieses Instrument auch für Untersuchungen in unterschiedlichen Unterrichtskontexten eingesetzt werden kann. Die Ergebnisse der Pilotstudie zeigen, dass nur für eine von vier Kategorien ein akzeptables K-Alpha erreicht wurde. Es ist anzunehmen, dass Van de Pol zu einer besseren Interrater-Reliabilität kam, da altershomogene Gruppen in sehr ähnlichen Unterrichtssituationen beurteilt wurden. Für die Beurteilung dieser Situation ist das Kodierschema ausreichend. Die Ergebnisse unserer Studie weisen jedoch darauf hin, dass das Kodierschema für die Beurteilung von heterogenen Interaktionen nicht ausreichend sensitiv ist.

In einem nächsten Schritt wurde das Kodierschema für alle Kategorien überarbeitet. Dabei wurden Scaffoldingstrategien ergänzt und die Kodes anhand von Beispielen konkretisiert. Die Ergebnisse der erneuten Evaluierung des Instruments werden Ende Februar vorliegen und im Rahmen der Präsentation vorgestellt und diskutiert.

Dokumentation der Jahrestagung 2016