09.06.2020
Diskussion

„Die größte Herausforderung ist es, alle Kinder zu erreichen“

Wegen der Corona-Pandemie unterrichten Lehrkräfte Schülerinnen und Schüler überwiegend virtuell. Wie das Lehren und Lernen auf Distanz ihre Arbeit verändert hat, welche Herausforderungen und Chancen das mit sich bringt und welche Unterstützung aus der Wissenschaft für die Praxis hilfreich wäre – das erklärt Iris Günthner, Mitarbeiterin des Mercator-Instituts, im Interview.

Du hast eine halbe Stelle als Lehrerin und bist zu 50 Prozent als Lehrkraft für besondere Aufgaben am Mercator-Institut angestellt. Was hat sich durch das Corona-Virus an deiner Tätigkeit als Lehrerin geändert? 

Da hat sich natürlich einiges verändert. Ich arbeite an einer Hauptschule und bin Co-Klassenlehrerin in einem siebten Schuljahr. Eigentlich unterrichte ich Deutsch und Biologie. Seit dem 13. März werden die Kinder zu Hause beschult, und zwar in den Fächern Deutsch, Englisch und Mathematik. Dazu bekommen sie von den Fachlehrerinnen und Fachlehrern meist wöchentlich Lernmaterial und Aufgaben geschickt. Neben dem Deutschunterricht, den ich online gebe, bin ich im Augenblick auch Ansprechpartnerin, wenn die Kinder Fragen zu den Lernmaterialien der Kolleginnen und Kollegen der anderen Fächer haben. Ich habe die Schülerinnen und Schüler die vergangenen Wochen ausschließlich per Videokonferenz unterrichtet, aber auf diese Weise vor allem Kontakt mit ihnen gehalten und mich mit ihnen ausgetauscht.

Wie sieht dein Schultag seit Mitte März aus? 

Ich treffe mich von montags bis freitags um 10 Uhr mit meinen Schülerinnen und Schülern auf einer Videokonferenz-Plattform. Gemeinsam arbeiten wir bis 12 oder 13 Uhr. Wir haben für diese Zeit keinen festgelegten Stundenplan, sondern schauen, welche Aufgaben die Kinder erledigen müssen und wo sie Unterstützung benötigen. Um die Eltern zu entlasten, versuche ich den Distanz-Unterricht so zu organisieren, dass die Schülerinnen und Schüler die Aufgaben mittags erledigt und anschließend einen freien Nachmittag haben – so wie es im normalen Schulalltag wäre. Damit möchte ich vermeiden, dass Schule zu Hause zum vorherrschenden Thema wird.

Wie klappt das Lernen per Videokonferenz? 

Das hat ziemlich schnell sehr gut funktioniert. Die Kinder sind sehr diszipliniert, sie bearbeiten fleißig die Aufgaben und freuen sich, dass sie über die Videokonferenzen Kontakt zueinander haben. Sie wollten sich sogar in den Osterferien weiterhin täglich online mit mir treffen. Auch die Netiquette hat sich rasch eingestellt. Braucht ein Kind eine Pause, postet es eine Kaffeetasse, und wenn es etwas sagen möchte, zeigt es mit einem Klick auf eine Emoji-Hand auf.

Bearbeiten die Kinder die Aufgaben in den Videokonferenzen komplett alleine? 

Nein. In der Schule lernen die Kinder in verschiedenen Kursen, und online versuche ich es ebenfalls so einzurichten, dass sie weiterhin in den entsprechenden Kursen zusammenarbeiten können. Dazu teile ich sie auf verschiedene virtuelle Räume auf. Da die Übungsblätter überwiegend auf Einzelarbeiten ausgerichtet sind, versuche ich meinen eigenen Unterricht so zu gestalten, dass wir in den Videokonferenzen zusammen etwas machen, etwa gemeinsam zu lesen.

Inzwischen läuft der virtuelle Unterricht ein paar Wochen. Was sind – auch rückblickend betrachtet – die größten Herausforderungen beim Lehren und Lernen auf Distanz?

Die größte Herausforderung war und ist es, alle Kinder zu erreichen. Es gibt Schülerinnen und Schüler, die abgetaucht sind. Ich habe sie weder per Mail noch telefonisch oder über Videokonferenzen erreicht. Aber die Teilnahme an den täglichen Videokonferenzen ist ja auch freiwillig. Eine weitere Hürde ist die digitale Ausstattung: Einige Kinder können nicht teilnehmen, weil sie kein Handy oder Computer haben. Da gibt es glücklicherweise Bestrebungen, das zu ändern. Eine ebenfalls große Aufgabe, die uns bestimmt langfristig beschäftigen wird, ist der richtige Umgang mit Corona. Das halte ich für eine sprachlich und didaktische sehr große Herausforderung.

Kannst du das näher erklären?

Als Mitarbeiterin des Mercator-Instituts bin ich in der Naturwissenschaftsdidaktik tätig. Normalerweise ist es so, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Erkenntnisse gewinnen und diese zunächst für andere Fachleute kommunizieren. Die Didaktikerinnen und Didaktiker überlegen sich sehr gut, wie sie diese Erkenntnisse aufbereiten können, damit die Kinder es verstehen und prüfen, welche Informationen dafür notwendig sind. Bei der Corona-Pandemie ist dieser Prozess total verkürzt: Ständig gibt es neue Informationen, die schnell und teilweise auch sehr emotional aufgeladen über die Medien kommuniziert werden, der Kenntnisstand ändert sich rasch, vieles ist unklar. Wenn die Schule wieder beginnt, und nicht mehr nur die Fächer Mathe, Deutsch und Englisch im Fokus stehen, müssen wir schauen, welche Vorstellungen die Kinder von Corona haben. Im Homeschooling habe ich oft mit den Kindern darüber gesprochen, wie es ihnen in der aktuellen Situation geht, aber wir haben uns nicht fachlich mit Corona auseinandergesetzt. Das ist durchaus ein Thema für den Biologieunterricht. Als Lehrerin muss ich überlegen, wie ich es schaffe, dass das Thema zwar behandelt wird, aber für die Kinder nicht angstbesetzt ist. Gleichzeitig müssen sie verstehen, wie nötig die Schutzmaßnahmen sind, die sie in der Schule noch eine Weile werden einhalten müssen. Die Kinder hier gut zu begleiten, passend zu informieren und auf die Situation zu reagieren, ist vor allem auch eine sprachliche Aufgabe.

Welche Unterstützung seitens der Forschung zur sprachlichen Bildung wäre für dich als Lehrerin hilfreich? 

Mit Blick auf die sprachliche Bildung fände es wichtig, zu erforschen und zu wissen, was das Corona-Virus mit den Kindern gemacht hat: Wie verändern sich ihre Gespräche? Was hat das für Auswirkungen, wenn so beängstigende Worte wie Maskenpflicht oder Abstandsregel den Wortschatz und die Gespräche zu Hause und auf dem Schulhof bestimmen? Jeder Small Talk, der gewöhnlich zur Entspannung dienen soll, dreht sich gerade um Corona. Mich würde interessieren, wie es gelingen kann, die Kinder aus dieser Corona-Blase zu holen und welche Informationen die Kinder gleichzeitig brauchen, damit sie mit der Situation und den Schutzmaßnahmen gut umgehen können. Hinweise aus der Wissenschaft, wie ich als Lehrerin solche Gespräche gestalten kann und welche Strategien es dafür gibt, wären hilfreich. 

Ist wissenschaftliche Unterstützung auch bei der didaktischen Gestaltung des Distanzlernens gefragt?

Ja, auf jeden Fall. Vor allem in den naturwissenschaftlichen Fächern sind originale, haptische Begegnungen wichtig. Deswegen mache ich mit den Schülerinnen und Schülern normalerweise viele Versuche im Unterricht. Das ist im Homeschooling zu gefährlich. Da fände ich Unterstützung aus der Forschung gut, wie ich solche originalen Begegnungen mit medialen sekundär Erfahrungen möglichst gut ersetzen kann, beispielsweise konkrete Ideen zur Arbeit mit VR-Technologie. Die derzeitige Situation bietet die Chance, dass Erlebnisse, die nicht im naturwissenschaftlichen Unterricht stattfinden können im Digitalen zu ermöglichen. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, das verstärkt einzuführen und zu gucken, was gut funktioniert. 

Du kannst der Situation also durchaus etwas Positives abgewinnen...

Ja. Die Schule ist ein Raum, in dem sich alle treffen und das Gleiche machen müssen, um die anderen nicht zu stören. Im klassischen Sinne arbeitet jeder für sich an Aufgaben oder in Gruppenarbeiten. Wenn ein Kind nicht mehr sitzen kann und das Bedürfnis hat aufzustehen, kann es das in der Klasse nicht machen, ohne die anderen zu stören. Das ist bei der Videokonferenz natürlich gar kein Problem. Jeder, der nicht mehr sitzen kann, macht sein Mikrofon aus und hüpft ein bisschen im Zimmer herum. Er stört niemandem, kann aber weiterhin alle sehen, hören und am Unterricht teilnehmen. Diese Situation bietet den Kindern einen Bewegungsraum, den sie in der Klasse gemeinsam nicht haben und den sie gerne nutzen. Und es gibt auch mehr Raum für Persönliches, was ich sehr schön finde: Während der Videokonferenzen zeigen die Schülerinnen und Schüler manchmal ihre Tiere im Garten oder ein Kind spielt allen etwas auf dem Klavier vor. 

Iris Günthner ist Lehrkraft für besondere Aufgabenin der Abteilung Sprache und Profession am Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt im sprachsensiblen naturwissenschaftliche Unterricht.

Interview: Frauke König