24.06.2021
Basiswissen

Zweitspracherwerb

Was versteht man unter Zweitspracherwerb? Wie unterscheidet sich dieser vom Fremdspracherwerb und welche Bedeutung hat die Erstsprache für den Zweitspracherwerb? Darüber informiert dieses Basiswissen.

Definition

Zweitspracherwerb bedeutet, dass eine Person eine oder mehrere Sprachen zusätzlich zur Erstsprache (auch als L1 bezeichnet) erwirbt. In Abgrenzung zum Erstspracherwerb(L1-Erwerb) wird die Zweitsprache (L2) nicht von Geburt an erworben, sondern der Erwerb beginnt sukzessive nach dem Ende des dritten Lebensjahres oder später.

Unterscheidung zwischen Zweit- und Fremdsprache

Zweit- und Fremdspracherwerb lassen sich anhand des Erwerbskontexts unterscheiden: Von Zweitspracherwerb (L2-Erwerb) ist die Rede, wenn die Sprache, die eine Person erwirbt, während des Erwerbsprozesses in der Umgebung gesprochen wird, in der die Person lebt (z. B. Deutsch in Deutschland). Handelt es sich bei der zu lernenden Sprache nicht um eine Umgebungssprache (z. B. Französisch in Deutschland), spricht man von Fremdspracherwerb.

Erwerbsbeginn ausschlaggebend für Zweitspracherwerb

Wie die Forschung zeigt, lassen sich beim Erwerb der Zweitsprache Unterschiede zum einsprachigen oder mehrsprachigen Erstspracherwerb feststellen. Zu Beginn des Zweitspracherwerbs wurden die Grundstrukturen in der Erstsprache in der Regel bereits erworben. Je nachdem, in welchem Alter das Erlernen der Zweitsprache beginnt, lässt sich der erwachsene Zweitspracherwerb (ab Pubertät) vom kindlichen Zweitspracherwerb abgrenzen. Beim kindlichen Zweitspracherwerb wird zudem der frühe Zweitspracherwerb (Erwerbsbeginn mit ca. drei bis sechs Jahren) vom späten Zweitspracherwerb (ca. sechs Jahre bis Eintritt in die Pubertät) unterschieden. Das Alter zu Beginn des Zweitspracherwerbs ist ein wichtiger Faktor für den erfolgreichen Erwerb einer Zweitsprache, da dieser an Erwerbsphasen gekoppelt zu sein scheint. Innerhalb dieser Phasen, die überwiegend ins Vorschulalter fallen, können Kinder sprachliche Strukturen und Merkmale besonders gut verarbeiten. Diese Erwerbsfenster scheinen sich nach und nach zu schließen, da sich die Strukturen im Gehirn durch die Reifung mit zunehmendem Alter verändern und die Nutzbarkeit der Spracherwerbsmechanismen in der Regel immer weiter abnimmt. Wie erfolgreich jemand eine Zweitsprache erwirbt, hängt empirischer Forschung zufolge insbesondere von der Kontaktdauer mit der Zweitsprache sowie mit der Qualität und der Quantität des Inputs ab. Mit zunehmendem Alter spielen darüber hinaus soziale und motivationale Aspekte wie Ansehen und Alltagsnutzen der Zweitsprache eine größere Rolle.

Bedeutung der Erstsprache für den Zweitspracherwerb

Der Erwerb auf lautlicher Ebene (Phonologie) in der Erstsprache ist zu Beginn des Zweitspracherwerbs bereits überwiegend abgeschlossen und kann daher für den Zweitspracherwerb genutzt werden. Im Zweitspracherwerb kann es schwieriger sein, lautliche Unterschiede in der Zweitsprache wahrzunehmen oder Laute zielsprachlich zu bilden, sodass ein Akzent hörbar sein kann. Beim Erwerb der Grammatik (Syntax und Morphologie) durchlaufen Zweitsprachenerwerbende ähnliche Erwerbsphasen wie beim Erstspracherwerb, jedoch wird hier nicht das Lebensalter, sondern die Kontaktdauer in Monaten als Richtwert zugrunde gelegt. Sprachliche Phänomene, die während des Erwerbs der Erstsprache eine längere Zeit benötigen oder spät erworben werden (z. B. Pluralflexion oder Kasussystem des Deutschen) erfordern also im Zweitspracherwerb eine längere Kontaktdauer mit der Zielsprache.

In Bezug auf den Wortschatz können L2-Erwerbende auf die Konzepte ihres erstsprachlichen Wortschatzes zugreifen und diese für die Wortschatzerweiterung nutzen. Zweitsprachenlernende können beispielsweise nonverbale und verbale Ersatzstrategien einsetzen, wenn Wortschatzlücken auftreten (z. B. Gestik und Mimik, Nachfragen, Umschreibungen, Wiederholungen). Wie die Mehrsprachigkeitsforschung zeigt, können – insbesondere in Gesprächssituationen mit anderen Mehrsprachigen – auch bewusste oder unbewusste Sprachmischungen (Code-Mixing) oder Sprachwechsel (Code-Switching) als Kommunikationsstrategien von Mehrsprachigen auftreten.

Anwendungsbeispiele für die Praxis

Um mehr Chancengleichheit herzustellen und allen Kindern Bildungserfolg zu ermöglichen, sind die Förderung und Unterstützung der sprachlichen Fähigkeiten als Schlüsselkompetenz zentrale Aufgaben aller Lehrenden. Damit pädagogische Fachkräfte und Lehrkräfte mehrsprachige Kinder und Jugendliche unterstützen und individuell fördern können, ist es wichtig, sich Wissen über den Erst- und Zweitspracherwerb und die Spracherwerbsverläufe anzueignen. Auch das Wissen um die sprachlichen Eigenheiten der individuellen Erstsprache(n) der Lernenden kann für die Förderung der Zweitsprache hilfreich und nutzbar sein (für einen Einblick in verschiedene Erstsprachen siehe z. B. Pro-DaZ: Deutsch als Zweitsprache in allen Fächern, Krifka et al. 2014). Bei der Einschätzung, welchen Sprachstand eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt hat, können standardisierte und normierte Instrumente zur Diagnostik der Zweitsprache Deutsch helfen (siehe z. B. BiSS-Transfer: Tool-Dokumentation). Die Ergebnisse aus Sprachstandsfeststellungen, die gegebenenfalls auch in der (oder den) Erstsprache(n) durchgeführt werden können, sind eine gute Basis für die Auswahl geeigneter Förderinhalte im Rahmen von additivem und/ oder integrativem DaZ-Unterricht und -Förderung (siehe z. B. Massumi et al., 2015). Sie helfen dabei, dass die Erzieherinnen und Erzieher bzw. die Lehrkräfte gezielt am (gesamtsprachlichen) Sprachstand des Kindes oder Jugendlichen und an dessen (gesamt-)sprachlichen Kompetenzen ansetzen können.

Das Basiswissen Zweitspracherwerb als Download.

Autorin

Rebekka Wanka

Dieser Text darf, unter Einhaltung der gängigen Zitierregeln und mit Angabe der Quelle, gern weiterverwendet werden: Wanka, Rebekka (2021). Zweitspracherwerb. Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache (Basiswissen sprachliche Bildung).

Literatur

Krifka, Manfred; Blaszczak, Johanna; Leßmöllmann, Annette; Meinunger, André; Stiebels, Barbara; Tracy, Rosemarie & Truckenbrodt, Hubert (2014). Das mehrsprachige Klassenzimmer. Über die Muttersprachen unserer Schüler. Berlin, Heidelberg: Springer.

Massumi, Mona; von Dewitz, Nora; Grießbach, Johanna; Terhart, Henrike; Wagner, Katarina; Hippmann, Katrin & Altinay, Lale (2015). Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche im deutschen Schulsystem. Bestandsaufnahme und Empfehlungen. Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache, Zentrum für LehrerInnenbildung an der Universität zu Köln. Verfügbar unter: https://www.mercator-institut-sprachfoerderung.de/fileadmin/Redaktion/PDF/Publikationen/MI_ZfL_Studie_
Zugewanderte_im_deutschen_Schulsystem_final_screen.pdf (abgerufen am 04.01.2021).>

Weiterführende Literatur/Informationen

Kauschke, Christina (2012). Kindlicher Spracherwerb im Deutschen. Verläufe, Forschungsmethoden, Erklärungsansätze. Berlin: De Gruyter.

Müller, Natascha; Gil, Laia Arnaus; Eichler, Nadine; Geveler, Jasmin; Hager, Malin; Jansen, Veronika; Patuto, Marisa; Schmeißer, Anika & Repetto, Valentina (2017). Code-Switching. Narr: Tübingen.

Szagun. Gisela (2019). Sprachentwicklung beim Kind. Weinheim Basel: Beltz.

Tracy, Rosemarie (2008). Wie Kinder Sprache lernen: Und wie wir sie dabei unterstützen können. Tübingen: Francke.>