02.06.2022
Basiswissen

Neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler

Was versteht man unter neu zugewanderten Schülerinnen und Schülern? Wie neu zugewanderte Kinder und Jugendliche schulisch eingebunden sowie gefördert werden können und warum es sich um
keine homogene Gruppe handelt - das erklärt dieses Basiswissen.

Definition

Als neu zugewandert werden diejenigen Schülerinnen und Schüler bezeichnet, die im schulpflichtigen Alter, d. h. mit sechs Jahren oder älter, nach Deutschland zuziehen und zu diesem Zeitpunkt über keine oder geringe Deutschkenntnisse verfügen (vgl. Massumi/von Dewitz et al. 2015). Ein Schüler oder eine Schülerin wird nicht dauerhaft als „neu zugewandert“ bezeichnet: Sind die Deutschkenntnisse einer Schülerin oder eines Schülers so gut, dass sie oder er ohne weitere Unterstützung im Fachunterricht einer Regelklasse sprachlich zurechtkommt, besteht auch keine Notwendigkeit mehr, von einer neu zugewanderten Schülerin bzw. einem neu zugewanderten Schüler zu sprechen.

Neu Zugewanderte – keine homogene Gruppe

Da die neu zugewanderten Schülerinnen und Schüler lediglich ihre Migrationserfahrung und die fehlenden Deutschkenntnisse verbinden, verwundert es wenig, dass es sich nicht um eine homogene Gruppe handelt: sie unterscheiden sich in einer Vielzahl von Merkmalen:

Herkunftssprachen und Sprachkompetenzen

Neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler kommen – je nach aktuellen Migrationsdynamiken, globalen Krisengebieten oder Kriegen – weltweit aus verschiedenen Herkunftsregionen und sprechen verschiedene Sprachen. Diese haben sie als Erst-, Zweit- und/oder Fremdsprachen durch ihre Familie, ihre Umgebung, die Schule oder weitere Lerngelegenheiten erworben. Viele von ihnen haben schon mehr als eine Sprache gelernt, wenn sie zuwandern. Der Sprachstand in den einzelnen Sprachen kann dabei variieren, vor allem hinsichtlich der schriftlichen Kompetenzen oder der Bildungssprache. Es gibt Schülerinnen und Schüler, die in der lateinischen Schrift alphabetisiert wurden oder diese im Fremdsprachenunterricht – meist im Fach Englisch – neben der Schrift ihrer ersten Sprache gelernt haben. Andere können in ihrer Herkunftssprache lesen und schreiben, jedoch nicht in der lateinischen Schrift, und wieder andere, die nur kurze Zeit oder gar nicht zur Schule gegangen sind, sind noch nicht alphabetisiert.

Bildungs- und Schulerfahrung

Nicht nur die Sprachkenntnisse, auch die Bildungs- und Schulerfahrung unterscheiden sich, was u. a. abhängig vom Bildungssystem des Herkunftslandes und der jeweiligen Migrationsgeschichte ist. Eng damit zusammen hängen auch die Kenntnisse der Schülerinnen und Schüler in den verschiedenen Fächern, ihre Erfahrung mit verschiedenen Unterrichts- und Lernmethoden, oder ihre darüber hinaus erworbenen Fähigkeiten und praktischen Fertigkeiten, wenn sie z. B. schon gearbeitet haben.

Lernumfeld

Auch die Lebenssituation in Deutschland kann ganz unterschiedlich ausfallen und sich auf das schulische Lernen auswirken. Nicht jede und jeder hat von Anfang an die Möglichkeit, einen eigenen und/oder ruhigen Arbeitsplatz zu nutzen oder kann sich ganz auf das schulische Lernen konzentrieren, wenn weitere Belastungen bestehen, wie z. B. eine große Unsicherheit in Bezug auf den Aufenthaltsstatus.

Neu zugewanderte und geflüchtete Kinder und Jugendliche – eine begriffliche Einordnung

Der Begriff Seiteneinsteiger bzw. Seiteneinsteigerin wird in der Regel synonym zu neu zugewanderte Schülerinnen und Schülern verwendet (Radtke 1996, aber auch aktuell z. B. Gamper et al. 2020) und bezieht sich metaphorisch auf den „seitlichen“ Einstieg ins deutsche Schulsystem.

Im öffentlichen Diskurs und in den Medien werden neu zugewanderte Kinder und Jugendliche häufig mit geflüchteten gleichgesetzt. Die Gruppe geflüchteter Schülerinnen und Schüler macht jedoch nur einen begrenzten Teil der neu zugewanderten aus. Herkunftsland oder -region, Migrationsursache und -verlauf, rechtlicher Status in Deutschland oder Staatsangehörigkeit sind keine Kriterien zur Bestimmung neu zugewanderter Schülerinnen und Schüler. Auch Kinder, die mit sogenanntem Migrationshintergrund in Deutschland geboren sind oder im Alter von weniger als sechs Jahren zuziehen, fallen nicht unter die genannte Definition, unabhängig davon, über welche Sprachkenntnisse sie verfügen oder wie ihr Sprachstand im Deutschen ist. Sie durchlaufen dann nämlich – anders als neu zugewanderte Kinder – die gesamte schulische Bildung in Deutschland.

Teilweise wird die Bezeichnung neu zugewandert jedoch auch auf den Bereich frühkindlicher Bildung ausgeweitet und für Kinder benutzt, die nach Deutschland zuziehen und neu in eine Kindertagesstätte kommen.

Schulische Einbindung neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher

Für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, wie ihre Aufnahme in die Schule gestaltet wird. Häufig werden parallel zu den Regelklassen geführte Klassen eingerichtet, in denen die Schülerinnen und Schüler in der ersten Zeit – ganz oder teilweise – getrennt von den übrigen Klassen unterrichtet werden, meist ohne schon einem Bildungsgang zugeordnet zu sein. In anderen Modellen werden Schülerinnen und Schüler von Anfang an in einer Regelklasse unterrichtet und erhalten eine additive Förderung im Deutschen. Dies ist besonders bei jüngeren Schülerinnen und Schülern, also in der Grundschule oder auch zu Beginn der Sekundarstufe ein häufigeres Vorgehen. Die Bezeichnung separater Klassen oder Lerngruppen kann dabei variieren, im Zentrum steht jedoch in aller Regel der Erwerb des Deutschen. Häufig werden sie unter dem Oberbegriff Vorbereitungsklasse oder Willkommensklasse gefasst. In der Grundschule und zu Beginn der Sekundarstufe ist es auch möglich, die Kinder stattdessen direkt in die Regelklasse aufzunehmen. Die schulorganisatorische Gestaltung hängt von vielen Faktoren ab, beispielsweise von den Vorgaben des Bundeslandes, von der Bildungsetappe, der Schulform oder dem Konzept der einzelnen Schule.

Förderung

Unabhängig von der schulorganisatorischen Einbindung zeigt die dargestellte Heterogenität, dass die Ausgangslagen für das schulische Lernen individuell bestimmt werden müssen. Förderung im Deutschen als Zweitsprache ist in jedem Fall notwendig – wie lange eine Unterstützung benötigt wird, ist jedoch unterschiedlich. Zudem sollte das gesamtsprachliche Repertoire der Schülerinnen und Schüler eingebunden und gefördert werden. An eine intensive Phase der Erstförderung im Deutschen sollten sich längerfristige Unterstützungsmaßnahmen anschließen, die die bildungs- und fachsprachlichen Anforderungen in den Fächern aufgreifen und für alle Schülerinnen und Schüler mit einer gezielten sprachlichen Förderung im Deutschen sowie weiteren Sprachen verzahnen.

Alle Fördermaßnahmen sollten die vorhandenen Sprachkenntnisse und fachlichen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler ressourcenorientiert aufgreifen und Anknüpfungspunkte bieten.

Das Basiswissen Neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler als Download.

Autorin

Jun.-Prof.’in Dr. Nora von Dewitz

Diese Publikation darf, unter Einhaltung der gängigen Zitierregeln und mit Angabe der Quelle, gern weiterverwendet werden: Von Dewitz, Nora (2022): Neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler. Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache (Basiswissen sprachliche Bildung).

Literatur

Massumi, Mona; von Dewitz, Nora; Grießbach, Johanna; Terhart, Henrike; Wagner, Katarina; Hippmann, Kathrin & Altinay, Lale (2015). Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche im deutschen Schulsystem. Bestandsaufnahme und Empfehlungen. Köln: Mercator-Institut, Zentrum für LehrerInnenbildung an der Universität zu Köln.

Gamper, Jana; Marx, Nicole; Röttger, Evelyn & Steinbock, Dorothée (2020). Deutsch für Seiteneinsteiger/innen. Einführung in das Themenheft. In InfoDaF, 47 (4), 347–358.

Radtke, Frank-Olaf (1996). Seiteneinsteiger. Über eine fragwürdige Ikone der Schulpolitik. In G. Auernheimer & P. Gstettner (Hrsg.), Jahrbuch für Pädagogik 1996: Pädagogik in multikulturellen Gesellschaften.Frankfurt a.M., Peter Lang, 49–63.>