21.06.2022
Diskussion

Mut zur Veränderung

Seit 2011 haben immer mehr Hamburger Grundschulen eine feste Lesezeit in den täglichen Unterrichtsalltag eingebunden. Damit haben sie nachweislich Rückstände von Schülerinnen und Schülern aufgeholt, insbesondere in der Leseflüssigkeit und im Textverständnis. Christian Gronwald, Schulleiter einer Pilotschule, erklärt in einem Interview mit dem BiSS-Journal wie er das Schulentwicklungsprojekt an seiner Schule implementiert hat, welche Erfahrungen er dabei gesammelt und was er daraus gelernt hat.

Wie kam die Grundschule Kirchdorf dazu, eine Lesezeit einzuführen?

Die Behörde für Schule und Berufsbildung schrieb vor ungefähr zehn Jahren ein Projekt aus. Es ging im Prinzip darum, was Grundschulen und weiterführende Schulen entwickeln können, um Übergänge zu erleichtern. Das war ein sehr offenes Projekt. Die Schulen konnten sich ziemlich frei überlegen, was gut für sie ist, es gab relativ wenig Steuerung.

Wir bildeten mit Kolleginnen und Kollegen der Nachbarschule eine Arbeitsgruppe. Die Gruppe arbeitete u. a. heraus, dass eine Verbesserung der Lesekompetenz eine wichtige Schlüsselqualifikation für den Übergang von Klasse vier zu Klasse fünf ist. In dieser Gruppe wirkte u. a. unsere Kollegin Katharina Hauschild mit. Sie fragte Herrn Prof. Dr. Steffen Gailberger, ob er uns beraten würde. Frau Hauschild hatte gehört, dass Herr Gailberger bei Kindern aus einer weiterführenden Nachbarschule große Erfolge in Hinblick auf ihre Lesefähigkeit durch Lautleseverfahren erzielt hatte. Allerdings bezog sich dieses Vorhaben nicht auf den täglichen Unterricht, sondern nur auf die Ferien.

Die Arbeitsgruppe entwickelte daraufhin in Zusammenarbeit mit Herrn Gailberger ein Curriculum, wie eine mögliche feste Lesezeit im Schulvormittag umgesetzt werden könnte. Nach Zustimmung der Steuergruppe und der Lehrkräfte haben wir das Ganze an unserer Schule ausprobiert.

Nach ungefähr einem Jahr bot uns die Behörde, in Zusammenarbeit mit Herrn Gailberger, an, in einem Verbund von sieben Schulen die Lesezeit wissenschaftlich begleiten zu lassen. Das war für uns eine große Unterstützung. Wir erhielten Geld, um Bücher im Klassensatz zu kaufen. Neben der wissenschaftlichen Begleitung wurden auch Fortbildungen angeboten. So bekam das Projekt, das bei uns begann und vielleicht mittelmäßig gelaufen ist, nochmal einen Impuls durch unterstützende Maßnahmen.

Warum haben Sie sich für den Bereich Lesen entschieden und dazu eine spezielle Maßnahme eingeführt?

Die Ausgangslage war, dass wir feststellten: Die Leseleistungen der Kinder an der Schule werden immer schlechter. Immer mehr Schülerinnen und Schüler wussten am Ende eines Satzes nicht mehr, was am Anfang stand. Wir haben  festgestellt, dass Lesehausaufgaben kaum erledigt wurden, gerade auch von den leistungsschwächeren Kindern. Wenn man Kinder fragte: „Wird dir von deinen Eltern vorgelesen?“, war das immer weniger der Fall. Für einen guten Übergang in den Jahrgang fünf ist aber eine gute Lesekompetenz äußerst wichtig. Daher beschlossen wir, das Lesen in die Schule reinzuholen, eine feste Zeit zu kreieren, in der gelesen wird und in der sich die Kinder mit Literatur beschäftigen. Eine Zeit in der sie nicht nur besser Lesen lernen, sondern z. B. auch ihre Rechtschreibung verbessern.

Und wie sind Sie als Schulleiter vorgegangen, um den Baustein zur Unterrichtsentwicklung im Bereich Lesen an Ihrer Schule einzuführen?

Erstmal musste ich mit Unterstützung der Arbeitsgruppe die Kolleginnen und Kollegen auf einer Lehrerkonferenz davon überzeugen, dass die Einführung der Lesezeit eine äußerst sinnvolle Maßnahme ist. Die große Mehrheit war dafür, das Projekt auszuprobieren. Ich denke, dass es schwierig ist, so etwas gegen Widerstände im Kollegium einzuführen. 

Ich denke, für die Schulentwicklung ist wichtig, dass man kleine, überschaubare Projekte bearbeitet, die gut handzuhaben sind und die Menschen nicht überfordern. Das ist bei der Lesezeit der Fall. Unterstützend für neue Entwicklungen sind immer auch kleine strukturelle Veränderungen an der Schule. So wird sichtbarer, dass etwas neu ist. Bei uns war es eine Änderung der Zeiteinteilung: Die letzte Schulstunde dauert an unserer Schule normalerweise 60 Minuten. Diese 60-Minuten-Stunde haben wir auf die zweite Schulstunde verlegt und nutzen die ersten 20 Minuten dieser Stunde als Lesezeit. Zudem gibt es einen Gong in der Schule, um die Lesezeit einzuläuten, und einen Gong, um sie zu beenden.

Sie sagten ja bereits, dass die Lesezeit an Ihrer Schule Teil des täglichen Unterrichts ist. Wie haben Sie sie in den Stundenplan integriert?

Mut zur Veränderung! Ich habe die Lesezeit als notwendig erkannt. Wir haben z. B. gemeinsam in der Schule besprochen, wo wir die Lesezeit hinlegen können. Am Anfang des Tages ist es vielleicht ein bisschen schlecht, weil nicht alle Kinder pünktlich kommen und vielleicht auch mal was anderes im Kopf haben. Am Ende des Schultags sind sie ausgelaugt. Wir haben die Lesezeit daher in die zweite Schulstunde gelegt.

Man sollte sich darüber klar sein, dass man fünfmal 20 Minuten Lesezeit pro Woche nicht einfach von den Deutschstunden abknapsen kann. Deutsch ist mehr als Lesen. Jedes Fach muss Minuten für die Lesezeit geben. Wenn man fünfmal die Woche zwanzig Minuten lang liest, das kostet Zeit und geht erstmal auf Kosten aller Fächer. Aber ich glaube, die Zeit ist gut investiert. Wenn die Kinder besser lesen können, profitieren alle Fächer davon.

Sie sprachen eben an, dass es auch Widerstände im Kollegium geben kann. Wie haben die Lehrkräfte an Ihrer Schule reagiert? Waren sie motiviert?

Am Anfang haben die Kolleginnen und Kollegen das Projekt gut angenommen, aber ich glaube wie immer bei solchen Prozessen ebbt das auch wieder ab. Was sehr motivierend war, waren die Ergebnisse des Salzburger Lesescreenings, über die wir auf Jahrgangssitzungen und Konferenzen gesprochen haben. Zu dem Zeitpunkt, nach eineinhalb Jahren Laufzeit, hatten wir schon drei Testphasen, um zu gucken, wie die Leistungen der Kinder sich entwickelten. Als wir dann feststellten, dass es einen Erfolg gab, war das eine große Motivation weiterzumachen. Die Kolleginnen und Kollegen merkten: Was sie tun, bringt was.

Wir wurden außerdem mit dem Hamburger Bildungspreis ausgezeichnet und erhielten den zweiten Platz für unser Lesekonzept beim Deutschen Lesepreis. Das war natürlich auch sehr motivierend.

Eine große Bereicherung waren auch die Bücher, die wir bekommen haben. Es war tolle Literatur. Wir kauften preisgekrönte Bücher, die lustig, witzig sind und über die man gemeinsam nachdenken kann. Es ist etwas anderes, ob ich mit einer Zettelsammlung gemeinsam lese oder ein Buch in der Hand halte. Es ist einfach schöner.

Das Entscheidende an diesem Projekt ist aber, dass es einfach umzusetzen ist. Und man kann schnell den Effekt sehen, dass es wirkt. Deswegen ist es auch so gut angekommen.

Hatten die Lehrkräfte Vorgaben, wie sie mit den Schülerinnen und Schülern lesen sollen?

Es gab Vorgaben. In den verpflichtenden Fortbildungen, die Herr Gailberger angeboten hat, wurden u. a. die verschiedenen Lesemethoden vorgestellt. Also das chorische Lesen, das Tandem-Lesen, das Lesetheater und Lesen mit Hörbuch. Diese Methoden wurden besprochen. Auch die dazugehörenden strukturellen Maßnahmen wurden noch einmal erläutert. Durch diese Fortbildungen erhielt die Lesezeit eine größere Verbindlichkeit.

Und wie zeitintensiv waren die Fortbildungen?

Die Fortbildungen fanden in der zweiten Phase statt, also erst als die sieben Schulen dazugekommen waren. Sie waren immer für die Kolleginnen und Kollegen eines Jahrgangs konzipiert. Wir schickten immer zwei Lehrerinnen und Lehrer aus jeder Klasse dorthin. Im Nachhinein war das aber doch zu viel. Ich würde das heute nicht mehr so intensiv machen.

Inzwischen gibt es mehrere Fortbildungsfilme, die u. a. in Zusammenarbeit mit der Reinhard Mohn Stiftung entstanden  sind und die Möglichkeit bieten, sich mit wenig Zeitaufwand mit den Inhalten der Leseförderung auseinanderzusetzen.

Da die Lesezeit ein Schulentwicklungsprojekt für das gesamte Kollegium war, spielte sicher auch gegenseitiger Austausch eine wichtige Rolle. Wie haben Sie als Schulleiter damals die Zusammenarbeit der Lehrkräfte sichergestellt?

Als wir damals die Lesezeit eingeführt haben, hatten wir noch nicht die heutigen Arbeitsstrukturen. Es gab mehr Konferenzen. Heute besprechen sich die Lehrkräfte in Jahrgangssitzungen alle 14 Tage. Dieses Format würde ich jetzt stärker für den gegenseitigen Austausch nutzen. In Lehrerkonferenzen würde ich eher etwas Neues einführen.

Also würden Sie die Einführung der Lesezeit an Ihrer Schule aus heutiger Sicht auch etwas anders gestalten?

Ich glaube, jetzt würde ich mit einem einmaligen Input starten. Anschließend kann man mithilfe von Filmen das Kollegium und Neueinsteigerinnen und Neueinsteiger fortbilden lassen. In den regelmäßigen Jahrgangssitzungen könnte man Fragestellungen reflektieren wie: Wie läuft es? Welche Schwierigkeiten hast du? Brauchst du Unterstützung?

Das Projekt wurde wissenschaftlich begleitet. Wie muss man sich das vorstellen und wie ist es bei den Beteiligten angekommen?

Ich glaube, das Wichtigste an der wissenschaftlichen Begleitung ist, dass man erfährt, ob eine Maßnahme Erfolg hat oder nicht. Am wichtigsten für uns waren in dieser Hinsicht die Auswertungen des Salzburger Lesescreenings. Sie haben uns gezeigt, dass wir Erfolg haben. Manchmal ergeben sich zudem in Besprechungen mit den Beteiligten Ideen für mögliche Veränderungen.

Die Kinder stört die wissenschaftliche Begleitung nicht. Bei uns hospitiert immer mal wieder jemand oder es wird ein Film aufgenommen. Das ist nichts Ungewöhnliches für sie.

Wie finden die Schülerinnen und Schüler die Lesezeit eigentlich?

Die Schülerinnen und Schüler lieben die Lesezeit! Eine Schülerin zum Beispiel sagte mal so schön: „Ich weiß genau was passiert und ich kann mich gut darauf einstellen und nach zwanzig Minuten habe ich viel gelernt.“

Christian Gronwald ist seit 2011 Schulleiter der Grundschule Kirchdorf in Hamburg. Dort arbeitete er seit 1995 als Lehrer. Von 1999 bis 2005 war er in Peking an der Deutschen Botschaftsschule tätig. Er studierte die Fächer Sport und Geografie, unterrichtete jedoch im Laufe seiner Laufbahn als Lehrer sämtliche Fächer.

Interview: Dr. Monika Socha