
Mehrsprachige Kommunikations- kompetenzen im Unterricht nutzen. Bericht und Materialien zum Symposium
Mehrsprachige Kompetenzen stellen nicht nur einen Teil der Identität der Schülerinnen und Schüler dar, sondern sind auch die Ausgangslage und zugleich eine Ressource für den Unterricht. Diese Kompetenzen sind bei migrationsbedingter Mehrsprachigkeit häufig im Bereich mündlicher Kommunikation besonders ausgeprägt. Das Symposium „Mehrsprachige Kommunikationskompetenzen im Unterricht nutzen“ auf der achten Jahrestagung des Mercator-Instituts am 2. März 2021 hat sich mit der Frage befasst, wie diese Ressourcen didaktisch sinnvoll in den Unterricht einbezogen werden können.
Das Symposium war in zwei thematische Blöcke unterteilt: Translanguaging& im Unterricht, das im ersten Teil des Symposiums in zwei Vorträgen behandelt wurde, sowie multimodale Unterrichtskonzepte in sprachlichen Fächern, die im Anschluss anhand von drei Präsentationen vorgestellt wurden. Gerahmt wurden die Vorträge von einer Plenumsdiskussion und dem Resümee des Diskutanten Marco Triulzi (Universität La Sapienza, Rom).
Teil I: Translanguaging im Unterricht
Translanguaging als kommunikative Ressource im mehrsprachigen Klassenzimmer
Lange Zeit ging man davon aus, dass unterschiedliche Sprachen im Klassenzimmer getrennt voneinander behandelt werden sollten. Im Zuge des Multilingual Turn wurde der gleichzeitige Gebrauch mehrerer Sprachen entstigmatisiert und Translanguaging nicht länger mit unbewusstem und defizitärem Sprachverhalten verbunden. Folglich versteht man Sprachlerngruppen nun als multilinguale Sprachgemeinschaften.
Mithilfe von Konversationsanalyse, interaktionaler Linguistik und Multimodalitätsforschung untersuchen die Referentinnen des Symposiums, Elena Becker und Helen Nikolay von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Translanguaging als kommunikative Ressource im mehrsprachigen Klassenzimmer. In einer laufenden Studie analysieren sie, wie Schülerinnen und Schüler aber auch Lehrkräfte Translanguaging systematisch einsetzen. Grundlage hierfür bilden Unterrichtsbeobachtungen aus elf Stunden Videomaterial, das im Rahmen einer MINT-Projektwoche in einer Willkommensklasse erhoben wurde. In der Woche wurde eine sprach- und fachintegrierte Lehr- und Lernsituation hergestellt und auf praktische Weise an biologischen Themen gearbeitet, z. B. der Rolle von Bakterien im Alltag oder Zucker und Säure in der Ernährung.
Der Beitrag im Symposium fokussierte vor allem das Handeln der Lehrkräfte. Die Referentinnen zeigten anhand von exemplarischen Ausschnitten einer ca. 35-minütigen Gruppenarbeitsphase, wie die Lehrperson mit Translanguaging umgeht, das von den Schülerinnen und Schülern initiiert wurde, und wie und an welcher Stelle die Lehrperson selbst Translanguaging initiiert. Durch detaillierte sequenzielle und multimodale Analysen beleuchteten die Referentinnen so die interaktiven Feinheiten der (fachbezogenen) Verständnissicherung und der Förderung von (Sprach-)Lernprozessen im mehrsprachigen Klassenzimmer.
Darauf aufbauend zeigten Elena Becker und Helen Nikolay exemplarisch, wie Material und Analysen Eingang in die kasuistische Hochschullehre finden, um neue Perspektiven auf die Rolle von Sprache(n) für soziale Interaktion (v. a. Handeln im Unterricht) sowie das Verhältnis von Mehrsprachigkeit im Unterricht und Spracheinstellungen der Lehramtsstudierenden zu eröffnen. Ziel ist, dass Lehramtsstudierende wahrnehmen, dass die Gestaltung inklusiver Lehrsettings im mehrsprachigen Klassenzimmer integraler Bestandteil professionellen Handelns im (Fach-)Unterricht ist.
Selbstberichtete Gründe für die Annahme oder Ablehnung eines Angebots zur Nutzung von Herkunftssprachen im Grundschulunterricht
Reziprokes Lehren ist eine effektive Methode, mit der auch mehrsprachige Schülerinnen und Schüler unter Nutzung ihrer Herkunftssprache erfolgreich lernen können. Gleichzeitig ist es im monolingual-deutschsprachigen Schulkontext schwierig, Mehrsprachigkeit zu aktivieren. Im zweiten Beitrag des Symposiums präsentierten Valentina Reitenbach, Jasmin Decristan (Bergische Universität Wuppertal), Victoria Kramer (DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation in Frankfurt am Main) und Dominique Patricia Rauch (Pädagogische Hochschule Ludwigsburg) Gründe von Schülerinnen und Schülern, ein Mehrsprachigkeitsangebot beim Reziproken Lehren anzunehmen oder abzulehnen.
Der Vortrag stützte sich auf Daten aus einer Interventionsstudie mit 38 Klassen und 684 Viertklässlerinnen und Viertklässlern. Lehrkräfte führten nach einer Fortbildung eine Unterrichtsreihe im Deutschunterricht durch, in der Schülerinnen und Schüler in mehrsprachigen Kleingruppen zusammenarbeiteten. Zur Aktivierung von Mehrsprachigkeit setzten die Lehrkräfte Sprachenportraits, bilinguales Material sowie Sprachlern-Stifte ein. Von 487 mehrsprachigen Kindern haben 393 (81 Prozent) beantwortet, ob und warum sie während der Intervention (k)eine andere Sprache als Deutsch genutzt haben. Davon gaben 63 Prozent an, das Angebot angenommen zu haben.
Mittels qualitativer Inhaltsanalyse identifizierten die Forschenden sowohl für die Annahme als auch für die Ablehnung vier zentrale Begründungen: Individuum, Gruppe, Material und Sprachangebot durch die Lehrkraft. Zeit(-mangel) wurde lediglich als Ablehnungsgrund angegeben. Innerhalb der Begründungen Individuum, Gruppe und Material argumentierten die Schülerinnen und Schüler mit sprachlichen und aufgabenbezogenen Kompetenzen sowie Emotionen und sprachbezogener Motivation. Das Sprachangebot wurde als Angebot, Aufforderung oder Verbot thematisiert.
In dem Vortrag präsentierten die Forschenden erste Ergebnisse des Kategoriensystems. Die Befunde ermöglichen weitere Erkenntnisse, wie sich mehrsprachigkeitssensible Unterrichtsangebote praktisch in der Grundschule umsetzen lassen.
Teil II: Multimodale Unterrichtskonzepte in sprachlichen Fächern
Mehrsprachige Kommunikationskonzepte im Fremdsprachenunterricht nutzen
Die Forderung mehrsprachige Kommunikationskompetenz im Fremdsprachenunterricht stärker zu nutzen, ist keinesfalls neu. Dennoch gibt es bislang kaum Studien, die kognitive sowie affektiv-motivationale Effekte entsprechender Ansätze untersuchen. Prof. Dr. Vera Busse (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) lieferte in ihrem Vortrag eine Übersicht über die Forschungslandschaft und präsentierte zwei Interventionsstudien mit Prä-, Post- und Follow-Up-Design, in denen die Wirksamkeit eines ressourcenorientierten Mehrsprachigkeitskonzepts im Englischanfangsunterricht untersucht wurde.
In beiden Studien nahmen Grundschülerinnen und Grundschüler der Klasse 3 an einer fünfstündigen Intervention zur Unterrichtseinheit human body teil, die sich am Lehrwerk Playway orientierte. In der ersten Studie ermutigten Lehrkräfte die Lernenden der Interventionsgruppe im Sinne eines Translingual-Scaffolding durch verschiedene Aktivitäten, neues Vokabular in ihre Familiensprache bzw. andere ihnen bekannte Sprachen mündlich zu übersetzen und mit den englischen Wörtern zu vergleichen. Zusätzlich zu diesem ressourcenorientiertem Mehrsprachigkeitskonzept wurden in der Interventionsgruppe zwei affektiv-erfahrungsorientierte Aktivitäten durchgeführt, um wertschätzende Einstellungen gegenüber sprachlicher Diversität im Klassenraum und Interesse am Sprachenlernen zu fördern.
Das Ergebnis: Die Interventionsgruppe zeigte einen signifikant höheren Lernzuwachs im Bereich des produktiven und rezeptiven Wortschatzes als die Kontrollgruppe; dieser Lernzuwachs war nachhaltig über das vierwöchige Retentionsintervall. Zudem wiesen die Lernenden der Interventionsgruppe ein erhöhtes Interesse an den Familiensprachen ihrer Peers und einen signifikant höheren positiven Affekt während der Intervention auf.
In der zweiten Studie wurden Lernende der Interventionsgruppe 1 nach dem ressourcenorientierten Mehrsprachigkeitskonzept unterrichtet; Lernende der Interventionsgruppe 2 nahmen nur an motivationsförderlichen Aktivitäten teil. Beide Interventionsgruppen machten deutlich größere Lernfortschritte im produktiven Wortschatz als die Kontrollgruppe; keine signifikanten Unterschiede konnten die Forschenden in den drei Gruppen bezüglich des rezeptiven Wortschatzes feststellen. Interventionsgruppe 1 zeigte zudem besonders nachhaltige Lernergebnisse und einen signifikant niedrigeren negativen Affekt als die Kontrollgruppe.
Insgesamt weisen die Ergebnisse darauf hin, dass ein ressourcenorientierter Ansatz zur Wortschatzeinführung lernförderlich sowie nachhaltig ist und die durchgeführten Lernaktivitäten positive Auswirkungen auf das Wohlbefinden der Lernenden haben. Da schulisches Wohlbefinden im Allgemeinen nicht nur für Lernleistungen, sondern auch für Akkulturationsprozesse relevant ist, sollten zukünftige Studien verstärkt auch die affektive Wirkung von Lernaktivitäten auf die Schülerinnen und Schüler in den Blick nehmen.
Auswirkungen dreisprachiger digitaler Storybooks auf fremdsprachliches Textverstehen und Vokabelzuwachs von ein- und mehrsprachigen Grundschülerinnen und Grundschülern
Die Referentinnen Dr. Judith Bündgens-Kosten, Prof. Dr. Daniela Elsner und Prof. Dr. Ilonca Hardy (Goethe-Universität Frankfurt) präsentierten im Symposium Ergebnisse aus einer Studie, in der sie untersuchen, ob ein- und mehrsprachige Grundschulkinder für die Aneignung der ersten schulischen Fremdsprache Englisch von mehrsprachigen Lernumgebungen profitieren.
Innerhalb eines quasi-experimentellen Designs arbeiteten insgesamt 118 einsprachig deutschsprachige und mehrsprachig deutsch-türkisch-sprachige Grundschülerinnen und Grundschüler paarweise entweder mit einem einsprachigen englischen digitalen Storybook oder mit einer dreisprachigen Version, in Deutsch, Englisch und Türkisch. Darüber hinaus wurde die Zusammensetzung der Zweiergruppen folgendermaßen variiert: mehrsprachige Paare, gemischt ein- und mehrsprachige Paare sowie einsprachige Paare.
Die Schülerinnen und Schüler wurden angewiesen, gemeinsam und inhaltsorientiert die multimodalen Storybooks zu lesen. Im Anschluss daran überprüften die Forschenden mithilfe eines Tests das Textverständnis und den Vokabelzuwachs im Englischen der Zweiergruppen und verglichen die Ergebnisse der Gruppen mittels multivariater Kovarianzanalyse (MANCOVA) miteinander. Das Ergebnis: Die Zweiergruppen, die mit der dreisprachigen Version des digitalen Buchs gearbeitet hatten, schnitten sowohl beim Textverständnis als beim Vokabelzuwachs (häufig im Text vorkommende Zielworte) besser ab als die Zweiergruppen, die mit der einsprachigen Version des Buchs gearbeitet hatten.
Auch die Zusammensetzung der Schülertandems wirkte sich auf den Vokabelzuwachs aus. Die Lernenden in den Zweiergruppen mit mehrsprachigen Schülerinnen und Schülern erreichten bei den häufig im Text vorkommenden Zielvokabeln deutlich höhere Vokabelzuwächse als die gemischten oder einsprachigen Paare.
Die Ergebnisse der vorgestellten Studie haben Relevanz für die Gestaltung mehrsprachiger Lernumgebungen für ein- und mehrsprachige Fremdsprachenlernende in der Grundschule.
Mehrsprachige Grammatiklernkarten - Aktivierung und Förderung mehrsprachiger Kompetenzen im Fremdsprachenunterricht
Abschließend präsentierten Mara De Zanet und Prof. Christof Chesini (Pädagogische Hochschule St. Gallen) im Symposium ein kürzlich initiiertes Projekt. Darin entwickeln und erproben sie visuell-haptische, interaktive und mehrsprachige Lernkarten in fünf Sprachen (Deutsch, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch, Englisch) zu ausgewählten grammatikalischen Themen. Ziel des Projekts ist es, mehrsprachigkeitsdidaktische, kommunikative Sequenzen in den Fremdsprachenunterricht der Schweizer Volksschule einzubauen und die Sensibilität aller Lernenden für Minderheitensprachen (hier am Beispiel der Schweizer Landessprachen Italienisch und Rätoromanisch) zu erhöhen.
In ersten Rückmeldungen zu den Prototypen der Lernkarten seitens der Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte sowie Bildungsexpertinnen und -experten wurden sie als innovativ, intuitiv und motivierend wahrgenommen und direkt spielerisch verwendet. Die Lernkarten eignen sich besonders gut, um mehrsprachige Unterrichtssequenzen in den Fremdsprachenunterricht einzubetten: Denn durch den Grammatikfokus werden zum einen Sprachfamilien und ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede induktiv entdeckt und zum anderen können Schülerinnen und Schüler den forschenden Blick auf Sprache im Allgemeinen üben. Das wiederum führt dazu, dass die Schülerinnen und Schüler die Grammatik besser behalten können. Interaktive Elemente, wie Klappen und Schieber, sowie eine Darstellung, die auf erforschten Design- und Gestaltungsprinzipien basiert, regen die Schülerinnen und Schüler an, sich mit den Lernmaterialien auseinanderzusetzen und Text, Bild und Bewegung zu verknüpfen, was positive Auswirkungen auf den Lerneffekt verspricht.
Autorinnen:
Jun.-Prof. Dr. Nora von Dewitz hat seit Februar 2019 die Juniorprofessur für Sprachliche Bildung und Mehrsprachigkeit inne. Zuvor war sie am Mercator-Institut mehrere Jahre in der Bund-Länder-Initiative Bildung durch Sprache und Schrift für die wissenschaftliche Beratung der Sekundarstufe zuständig.
Dr. Evghenia Goltsev ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Mercator-Institut. Sie koordiniert seit 2017 die Nachwuchsakademie und lehrt im DaZ-Modul. Im aktuellen Wintersemester und im kommenden Sommersemester vertritt sie die Professur am Seminar für DaF/DaZ, Institut für Sprache, Literatur und Medien der Europa-Universität Flensburg.
Dr. Ina-Maria Maahs ist stellvertretende Leiterin der Abteilung Sprache und Profession am Mercator-Institut und Ansprechpartnerin für das Weiterbildungsstudium Deutsch als Zweitsprache.
Zum Weiterlesen
Artamonova, O.; Hinnenkamp, V. (2019): Das Klassenzimmer als poly- und translingualer Raum. In: Luttermann, K.; Kazzazi, K.; Luttermann, C. (Hg.): Institutionelle und individuelle Mehrsprachigkeit. Münster u.a.: Lit Verlag, S. 299-336.
Corcoll López, Cristina; González-Davies, Maria (2016): Switching codes in the plurilingual classroom. In: ELT Journal 70 (1), S. 67-77.
García, Ofelia (2009): Bilingual Education in the 21st Century. Oxford: Blackwell.
Gogolin, I., 1994. Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster u.a.: Waxmann.
Hall, Graham; Cook, Guy (2012): Own-language use in language teaching and learning. In: Language Teaching 45 (3), S. 271-308.
Sidnell, Jack (2010): Conversation Analysis – An Introduction. Malden, MA: Wiley Blackwell.
Fung, I., Wilkinson, I., & Moore, D. (2003). L1-assisted reciprocal teaching to improve ESL students’ comprehension of English expository text. Learning and Instruction, 13, 1–31.
Busse V., Cenoz J., Dalmann N., Rogge F. (2020). Addressing linguistic diversity in the language classroom in a resource-oriented way. Language Learning, 70(2), 382-419.
Projektwebsite meRLe – „Förderung der Deutsch-Lesekompetenz durch mehrsprachigkeitssensibles Reziprokes Lehren im Grundschulunterricht“