24.06.2021
Basiswissen

Fremdspracherwerb

Was versteht man unter Fremdspracherwerb? Wie entwickelt sich eine individuelle Lernersprache und welche Faktoren beeinflussen den Erwerbsprozess? Darüber und über die Bedeutung des Fremdsprachenlernens für die sprachliche Bildung informiert dieses Basiswissen.

Definition

Fremdspracherwerb (auch Tertiärspracherwerb genannt) bezeichnet den Lernprozess einer Sprache, die zum Zeitpunkt des Erlernens nicht in der Umgebung der Person gesprochen wird, und der erst stattfindet, wenn der grundlegende Erstspracherwerb(auch als L1-Erwerb bezeichnet) der Person bereits abgeschlossen ist. Das ist in der Regel nach dem Ende des dritten Lebensjahres der Fall. Spätestens mit dem Erwerb einer ersten Fremdsprache entwickelt ein Mensch mehrsprachige Kompetenzen und kann im Laufe seines Lebens eine Vielzahl von Fremdsprachen erlernen (L2-LX).

Unterscheidung zwischen Fremd- und Zweitsprache

Fremd- und Zweitspracherwerb lassen sich anhand des Erwerbskontexts unterscheiden: Von Zweitspracherwerb ist die Rede, wenn die Sprache, die eine Person erwirbt, während des Erwerbsprozesses in der Umgebung gesprochen wird, in der die Person lebt (z. B. Deutsch in Deutschland). Handelt es sich bei der zu lernenden Sprache nicht um eine Umgebungssprache (z. B. Französisch in Deutschland), spricht man von Fremdspracherwerb.

Entwicklung der individuellen Lernersprache

Wenn ein Mensch eine Sprache erwirbt, bildet sich eine individuelle Lernersprache (auch Interlanguage genannt) heraus (Selinker, 1972). Diese verändert sich mit dem weiteren Erwerb der Sprache ständig. Bestmöglicher Endpunkt des Erwerbsprozesses ist es, wenn Lernende die Sprache vollkommen beherrschen und sich damit die individuelle Lernersprache größtmöglich an die sogenannte Zielsprache annähert. Unabhängig davon, wie weit die Lernersprache schon der Zielsprache entspricht, ist sie zu jedem Zeitpunkt eine eigenständige Sprache mit einem vollständig ausgebildeten Regelsystem. Dieses System stimmt nur noch nicht (ganz) mit dem der Zielsprache überein, sondern weist Merkmale von bisher erlernten Sprachen der Person, Merkmale der Zielsprache, aber auch eigene Kennzeichen auf (vgl. Edmonson & House, 2000). Beispielsweise kann es sein, dass die Lernerin oder der Lerner schon die korrekte Satzstellung der Zielsprache verwendet, die Aussprache aber noch stark von bereits gelernten Sprachen beeinflusst ist, sodass eine Art eigene Aussprache entsteht. Lernersprachen sind individuell sehr unterschiedlich, weswegen keine zwei Lernenden genau dieselbe Lernersprache sprechen.

Einflussfaktoren auf den Erwerbsprozess

Wie schnell und bis zu welchem Ausmaß sich die individuelle Lernersprache an die Zielsprache annähert, ist von zahlreichen Faktoren abhängig (vgl. Hufeisen 2010). Viele von ihnen wirken auf jeden Spracherwerbsprozess ein, unabhängig davon, ob es sich um den Erwerb einer Erst-, Zweit- oder Fremdsprache handelt. Hierzu zählen unter anderem die generelle Fähigkeit, eine Sprache zu erwerben, das Alter, die Motivation und allgemeine kognitive Fähigkeiten der Lernenden sowie die Lernumgebung. Allerdings wirken beim Fremdspracherwerb zusätzlich sogenannte fremdsprachenspezifische Faktoren. Diese ergeben sich aus der Tatsache, dass die Lernenden vor der Fremdsprache schon mindestens eine Sprache als Erstsprache erlernt haben, vielleicht aber auch mehrere Erstsprachen, eine Zweitsprache sowie bereits andere Fremdsprachen. Auf den Erwerb einer Fremdsprache haben deshalb die Lernerfahrungen, die die Lernenden bereits mit anderen oder dieser Sprache gemacht haben, sowie Lernstrategien und alle bereits erworbenen Sprachen der Lernenden einen großen Einfluss.

Effekte anderer Sprachen auf den Erwerbsprozess

Den Einfluss, den bereits erlernte Sprachen oder Sprachen, die Menschen zeitgleich lernen, auf die Zielsprache ausüben, bezeichnet man als Transfer (auch crosslinguistic influence genannt). Dabei kann es zu Äußerungen kommen, die der Norm der Zielsprache entsprechen (positiver Transfer oder Lernerleichterung). Oder der Transfer führt zu Äußerungen, die der Norm der Zielsprache nicht entsprechen (negativer Transfer oder Interferenz). Wenn jemand beispielsweise das Geschlecht von Nomen im Französischen auf das Deutsche überträgt, kann das zu einem positiven Transfer führen (le chien - der Hund) oder zu einem negativen (le chat - *der Katze). Ebenso spielen die bereits mit anderen Sprachen gemachten Lernerfahrungen (z. B. erworbene Lerntechniken, Wissen um den eigenen Lerntyp und Kommunikationsstrategien) eine große Rolle.

Einfluss des Fremdsprachenunterrichts auf den Erwerbsprozess

Der Fremdsprachenunterricht prägt das Lernen einer Fremdsprache ganz wesentlich. Denn der Fremdspracherwerb kann zwar autonom erfolgen, das heißt ohne einen Unterrichtsbesuch, meist erwerben Kinder oder Erwachsene Fremdsprachen jedoch im Rahmen von Fremdsprachenunterricht (sogenannter gesteuerter Spracherwerb), beispielsweise in der Schule. Nicht die Lernenden oder ihre sprachliche Umgebung bestimmen hierbei in erster Linie, was, wann und wie sie lernen. Stattdessen wird dies in hohem Maße vom Lehrplan, Lernmaterial und von der Lehrkraft durch den Unterricht vorgegeben. Damit geht auch einher, dass der Lernprozess einer Fremdsprache häufig bewusster verläuft als der Erwerb von Erst- und Zweitsprachen. Im besten Fall beziehen die Lehrenden hierbei die mehrsprachigen Kompetenzen der Lernenden im Sinne der Mehrsprachigkeitsdidaktik im Fremdsprachenunterricht ein, um Synergieeffekte zu nutzen (z. B. durch positiven Transfer). Inzwischen gibt es hierfür eine Vielzahl von speziell für den Fremdsprachenbereich entwickelten Konzepten wie den Interkomprehensionsansatz, die Tertiärsprachendidaktik, den bilingualen Sachfachunterricht u.v.m.

Bedeutung des Fremdsprachenlernens für die sprachliche Bildung

Die Fähigkeit, in mehreren Sprachen kommunizieren zu können, hat zahlreiche Vorteile. Das gilt sowohl für den privaten als auch für den beruflichen Bereich. Deshalb hat der Fremdsprachenunterricht eine sehr lange Tradition. In der heutigen Zeit von Globalisierung und Mobilität werden Fremdsprachenkenntnisse sogar als Grundkompetenz angesehen. So gehört zu den Zielen der Sprachenpolitik der Europäischen Union, dass jede Bürgerin und jeder Bürger zusätzlich zu ihrer oder seiner Erstsprache zwei weitere Sprachen beherrschen sollte und der Unterricht von Fremdsprachen fester Bestandteil des schulischen Fächerkanons ist.

Das Basiswissen Fremdspracherwerb als Download.

Autorin

Dr. Stefanie Bredthauer

Dieser Text darf, unter Einhaltung der gängigen Zitierregeln und mit Angabe der Quelle, gern weiterverwendet werden: Bredthauer, Stefanie (2021). Fremdspracherwerb. Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache (Basiswissen sprachliche Bildung).

Literatur

Edmondson, Willis & House, Juliane (2000). Einführung in die Sprachlehrforschung (2. Aufl.). Tübingen: Francke.

Hufeisen, Britta (2010). Theoretische Fundierung multiplen Sprachenlernens - Faktorenmodell 2.0. Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, 36, 200–207.

Selinker, Larry (1972). Interlanguage. International Review of Applied Linguistics in Language Teaching, 10 (3), 209–231.>

Weiterführende Literatur/Informationen

Burwitz-Melzer, Eva; Mehlhorn, Grit; Riemer, Claudia; Bausch, Karl-Richard & Krumm, Hans-Jürgen (Hrsg.) (2016). Handbuch Fremdsprachenunterricht (6. Aufl.). Tübingen: Francke.>