
Erstspracherwerb
Was ist mit Erstspracherwerb gemeint? Wie unterscheidet sich dieser vom Zweit- und Fremdspracherwerb und in welche Phasen lässt er sich unterteilen? Antworten auf diese Fragen liefert dieses Basiswissen.
Definition
Erstspracherwerb bedeutet, dass ein Kind eine oder mehrere Sprache(n) von Geburt an oder in sehr jungem Alter spontan und ungesteuert erwirbt. Das heißt, dass ein Kind sie sich in einem natürlichen Kontext aneignet, also durch den Kontakt zur Sprache, die in der Familie und/oder der Umgebung gesprochen wird. Auch der Erwerb mehrerer Sprachen (simultan bilingualer Erstspracherwerb) als Erstsprachen ist möglich und kommt häufiger vor als der monolinguale Erstspracherwerb.
Unterscheidung zwischen Erst-, Zweit und Fremdspracherwerb
Neben Erstspracherwerb wird auch der Begriff L1-Erwerb verwendet. Der Erwerb einer Erstsprache oder der gleichzeitige Erwerb mehrerer Erstsprachen in der frühen Kindheit bis zum dritten Lebensjahr (echter bzw. simultan bilingualer Erstspracherwerb) wird vom frühen, späten und erwachsenen Zweitspracherwerb sowie dem Fremdspracherwerb abgegrenzt. Von Zweitspracherwerb (L2-Erwerb) ist die Rede, wenn die Sprache nach dem Ende des dritten Lebensjahrs erworben wird und die Sprache, die sich eine Person aneignet, während des Erwerbsprozesses in der Umgebung gesprochen wird, in der die Person lebt (z. B. Deutsch in Deutschland). Von Fremdspracherwerb spricht man, wenn es sich bei der zu lernenden Sprache nicht um eine Umgebungssprache handelt (z. B. Französisch in Deutschland).
Phasen des Erstspracherwerbs
Sprache zu erwerben ist eine menschliche Eigenschaft. Die Spracherwerbsforschung hat festgestellt, dass Spracherwerb eine sehr große natürliche zeitliche Variabilität hat. Auch wenn der Spracherwerb in Erwerbsphasen in Bezug zum Alter als Richtwert beschrieben wird, gibt es Kinder, die mehr oder weniger Zeit für den Erwerb benötigen, Phasen überspringen oder still durchlaufen. In den ersten Lebensjahren kann ein Kind Sprache im Gehirn besonders gut verarbeiten und sprachliche Strukturen (Laute, Grammatik, Bedeutungen) sehr leicht entdecken.
Der Spracherwerb beginnt bereits vorgeburtlich mit der Entwicklung des Gehörs um die 27. Schwangerschaftswoche im Mutterleib (pränataler Erwerb). Ist das Kind auf der Welt, erfolgt der Spracherwerb bei altersgerechter, ungestörter Entwicklung in einer beschreibbaren Reihenfolge: Um den 6. Lebensmonat beginnt die Lallphase, in der Silbenketten mit zunächst gleichen und bald darauf unterschiedlichen Silben geäußert werden (dt./engl.: dada, baba, mamama, lala, badega). Mit der Produktion der ersten Wörter um den ersten Geburtstag herum tritt das Kind in die Einwortphase ein (dt.: Ball, spielen, auf, ja; engl.: go, no, up). In der Zweiwortphase, die ungefähr im Alter von 18 bis 24 Monaten beginnt, kombinieren Kinder Wörter. In dieser Phase stehen z. B. unflektierte Verben und Verbteile am Ende der Äußerungen (dt.: Mia laufen,Ball rein; engl.: hi mommy, byebye boat, dirty sock). Mit ca. 24 bis 30 Monaten werden erste Hauptsätze in Form von Aussagen (dt.: Leon spielt Ball.; engl.: no sit here, Cathy build house.) und Fragen (dt.: Wo ist Ball?; engl.: Daddy go?) produziert. Das Verb steht hier im Hauptsatz flektiert an der zweiten Satzposition. In dieser Phase, die sich mit der vorherigen überschneiden kann, werden um den dritten Geburtstag herum Nebensätze erworben, in denen der Satz durch Konjunktionen eingeleitet wird (z. B. weil, wenn) und das finite Verb im Deutschen am Ende des Nebensatzes steht (dt.: weil ich (den) Teddy mag; engl.: ‘cause Teddy not hungry). Mit ungefähr vier Jahren haben Kinder in der Regel die grammatischen Grundstrukturen ihrer Erstsprache erworben. Der Wortschatz wird lebenslang erweitert. Bis ins Grundschulalter sind Übergeneralisierungen regelmäßiger Formen beispielsweise bei der Flexion von Wörtern zu beobachten (dt.: geschreibt, Messers; engl.: mens).
Wie stark die genetische Disposition den Spracherwerb beeinflusst, ist wissenschaftlich umstritten und bisher nicht abschließend geklärt. Derzeit gibt es in der Spracherwerbsforschung Hinweise dafür, dass sowohl innere Faktoren, wie die genetische Disposition, als auch äußere Faktoren, wie die sprachliche Interaktion, für den Spracherwerb wichtig sind, was in Emergenzmodellen abgebildet wird: Jeder Mensch verfügt demzufolge über angeborenes sprachliches Wissen, das es ihm ermöglicht, jede Sprache der Welt zu erwerben. Er benötigt für einen zielsprachlichen Erstspracherwerb gleichermaßen die direkte zwischenmenschliche Interaktion mit den Bezugspersonen, die allgemeine Kognition und den Willen zur Kommunikation sowie zur sozialen Interaktion.
Anwendungsbeispiele für die Praxis
Um mehr Chancengleichheit herzustellen und allen Kindern Bildungserfolg zu ermöglichen, sind die Bildung und Förderung der sprachlichen Fähigkeiten als Schlüsselkompetenz zentrale Aufgaben aller Lehrenden. Die individuelle Bildung und Förderung der Erstsprache(n) von Kindern und Jugendlichen erfordern zunächst, sich Wissen über den Erstspracherwerb und den Spracherwerbsverlauf anzueignen. Um einschätzen zu können, welchen Sprachstand ein Kind zu einem bestimmten Zeitpunkt in seiner Erstsprache hat, können zahlreiche standardisierte und normierte Instrumente zur Sprachstandsdiagnostik genutzt werden (siehe z. B. BiSS-Transfer: Tool-Dokumentation). Kinder, die keine altersgemäße erstsprachliche Entwicklung haben, können mit geeigneten Diagnoseinstrumenten identifiziert werden, um für sie daraufhin therapeutische Hilfe in die Wege zu leiten (z. B. durch Logopädinnen und Logopäden, Sprachtherapeutinnen und Sprachtherapeuten, Ärztinnen und Ärzte).
Das Basiswissen Erstspracherwerb als Download
Autorin
Rebekka Wanka
Dieser Text darf, unter Einhaltung der gängigen Zitierregeln und mit Angabe der Quelle, gern weiterverwendet werden: Wanka, Rebekka (2021). Erstspracherwerb. Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache (Basiswissen sprachliche Bildung).
Weiterführende Literatur/Informationen
Tracy, Rosemary (2008). Wie Kinder Sprache lernen: Und wie wir sie dabei unterstützen können (2. Aufl.). Tübingen: Francke.
Kauschke, Christina (2012). Kindlicher Spracherwerb im Deutschen. Verläufe, Forschungsmethoden, Erklärungsansätze. Berlin: De Gruyter.
Andresen, Helga (2017). Vom Sprechen zum Schreiben. Sprachentwicklung zwischen dem vierten und siebten Lebensjahr (2. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta.>
Bereits erschienen: Basiswissen sprachliche Bildung
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