
Dialogisches Lesen
Dieses Basiswissen widmet sich dem Dialogischen Lesen als Sprachfördermethode. Der Text erläutert die Abgrenzung zum klassischen Vorlesen, die Gelingensfaktoren sowie die Umsetzung der Methode im Kita-Alltag.
Definition
Dialogisches Lesen ist eine Mischung aus Vorlesen und Erzählen. Im Vordergrund dieser Sprachfördermethode steht das Gespräch mit den Kindern, das durch das Vorlesen eines Buches initiiert wird. An zweiter Stelle erst geht es um die vorgelesene Geschichte (Kraus 2005, S. 109). Ziel des dialogischen Lesens ist es, die Sprachentwicklung von Kindern und insbesondere ihre Literalität systematisch zu unterstützen und zu begleiten.
Das dialogische Lesen als wirksame Sprachfördermethode
Das dialogische Lesen ist eine wirksame Sprachfördermethode, um Kinder in ihrer (mehr-)sprachlichen Entwicklung und in ihren Literalitätserfahrungen zu unterstützen (Whitehurst, Arnold, Epstein, Angell, Smith & Fischel, 1994; Kurtenbach et al. 2013, S. 27). Eine umfassende Literalitätserfahrung, also mit Schrift und Texten in Berührung zu kommen und als sprachliche Mittel mit vielfältigen Funktionen kennenzulernen, gilt als eine wichtige Komponente für den erfolgreichen Erwerb von Sprach- und Schreibkompetenz.
Das Setting einer typischen dialogischen Lesesituation lässt sich wie folgt beschreiben: Eine erwachsene Person, meist die pädagogische Fachkraft, schaut sich gemeinsam mit bis zu vier Kindern ein Buch an und nutzt dieses, um mit den Kindern in einen Dialog zu treten. Darin nehmen die Kinder aktive Rollen ein, während die erwachsene Person eine zurückhaltende, moderierende Rolle innehat. Beim dialogischen Lesen geht es darum, dass die erwachsene Person den Kindern möglichst viel Raum zum Sprechen gibt und dies durch verschiedene Methoden (z. B. Sprachfördertechniken) unterstützt. Die pädagogische Fachkraft liest den Kindern aus dem Buch vor und regt sie – vor allem durch Fragen – dazu an, die abgebildeten Geschichten (weiter-) zu erzählen und darüber hinaus von eigenen Erfahrungen, Vorstellungen und Ansichten zu berichten sowie Fragen zu stellen. Durch die Dialoge, die sich so entspinnen, lernen Kinder neue sprachliche Formen sowie beispielsweise den Wechsel von der sprechenden in die zuhörende Rolle.
Ein Vorteil der Methode ist, dass sie sich gut in den Kita-Alltag integrieren lässt, da in Freispielphasen Zeit und Raum entsteht, um gemeinsam zu lesen. Weiterhin lässt sich auch in anderen Sprachen als Deutsch dialogisch lesen, sodass mehrere Sprachen berücksichtigt und einbezogen werden können. Außerdem bietet das Setting der Kleingruppe jedem Kind die Möglichkeit, zu Wort zu kommen. Auch schüchterne Kinder oder diejenigen, die sprachlich unterstützt werden müssen und sich in größeren Gruppen oft zurückhalten, bekommen so die Gelegenheit, etwas beizutragen.
Abgrenzung zum klassischen Vorlesen
Der Begriff des dialogischen Lesens (dialogic reading) wurde ursprünglich von Whitehurst et al. geprägt (1988, S. 557), der es vom sogenannten klassischen Vorlesen abgrenzt. In einer klassischen Vorlesesituation, in der Kinder der Geschichte lauschen, die eine erwachsene Person vorliest, hören Kinder vor allem zu und haben in Bezug auf die Sprachproduktion eine vorrangig passive Rolle. Dialoge zwischen der vorlesenden Person und den Zuhörenden gibt es, im Gegensatz zum dialogischen Lesen, selten. Während beim dialogischen Lesen höchstens vier Kinder teilnehmen können, ist es beim klassischen Vorlesen möglich, größere Gruppen in einer Kita einzubeziehen.
Gelingensfaktoren und Umsetzung im Kita-Alltag
Damit das dialogische Lesen im Alltag seine sprachförderliche Wirkung entfalten kann, sollte ein Buch so ausgewählt werden, dass die Geschichte und die Gestaltung des Buches die individuellen Interessen, die Altersgruppe sowie die sprachlichen Kenntnisse und Kompetenzen der Kinder anspricht.
Auch die Situation und der Ort sind für das dialogische Lesen ein wichtiger Faktor: Ein ruhiger und gemütlicher Ort wirkt sich auf das Wohlbefinden der Kinder positiv aus. Das Gefühl von Nähe und Geborgenheit, das dadurch entsteht, steigert die Lesemotivation der Kinder maßgeblich, da das Lesen auf diese Weise mit positiven Gefühlen und Erinnerungen verbunden wird (Kurtenbach 2013, S. 25). Auf lange Sicht entwickeln die Kinder so ein positives Bild vom Lesen, was ihre Lesefreude erhöht und damit die Chance, dass sie später häufiger selbstständig zu einem Buch greifen.
Besonders wichtig ist die sprachliche Gestaltung des dialogischen Lesens: So können die pädagogischen Fachkräfte Modellierungs- oder Fragetechniken einsetzen, um die Kinder sprachlich zu aktivieren, sie zu fordern und ihnen neue sprachliche Modelle zu bieten. Sie können beispielsweise – mithilfe des wiederholten Benennens – ein Wort besonders hervorheben und in verschiedenen Zusammenhängen zeigen, wie sich das Wort anpassen lässt: „Da sind große Schafe und kleine Schafe und was ist hier? Da ist nur ein Schaf.“ Modellierungstechniken können außerdem dazu dienen, direkt auf Äußerungen eines Kindes einzugehen. So kann mithilfe des korrektiven Feedbacks eine Äußerung korrigiert und erweitert werden: Auf die Äußerung eines Kindes „Da ist ein Säferhund.“ kann die pädagogische Fachkraft etwa wie folgt antworten „Genau, da ist ein Schäferhund. Charly der Schäferhund sitzt dort auf der Wiese.“
Doch im Grunde gibt es wenige Faktoren, die das dialogische Lesen negativ beeinflussen. Die Methode erfordert zwar eine entsprechende Vorbereitung und Übung der Fachkräfte (Titz, 2017), die für den Einsatz von Modellierungstechniken Kenntnisse über Sprachfördertechniken benötigen, und strukturell müssen die räumlichen und fachlichen Bedingungen gesichert sein, damit die Methode in Kleingruppen angewendet werden kann. Aber die anregende und abwechslungsreiche sprachliche Gestaltung der Situation trägt letztlich stark zur Erhaltung des Interesses und der Motivation der Kinder bei und wirkt sich deutlich auf ihre Sprachentwicklung aus. Darüber hinaus ist die Methode sehr gut in den pädagogischen Alltag integrierbar.
Das Basiswissen Dialogisches Lesen als Download.
Autorin
Marlen Wendland
Diese Publikation darf, unter Einhaltung der gängigen Zitierregeln und mit Angabe der Quelle, gern weiterverwendet werden: Wendland, Marlen (2022): Dialogisches Lesen. Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache (Basiswissen sprachliche Bildung).
Literatur
Kurtenbach, Stephanie, Bose, Ines & Thieme, Tabitha (2013). Gemeinsam ein Bilderbuch anschauen. Untersuchung zum Gesprächsverhalten von Erzieherinnen. In S. Kurtenbach & I. Bose (Hrsg.), Gespräche zwischen Erzieherinnen und Kindern. Beobachtung. Analyse. Förderung. Hallesche Schriften zur Sprachwissenschaft und Phonetik, Band 47, Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 23-50.
Whitehurst, Grover J., Falco, F. L., Lonigan, Christopher J., Fischel, Janet E., DeBaryshe, Barbara D., Valdez-Menchaca, Marta C., & Caulfield, M. (1988). Accelerating language development through picture book reading. In Developmental Psychology, 24(4), S. 557.
Whitehurst, Grover J., Arnold, David S., Epstein, Jeff N., Angell, A. L., Smith, M., & Fischel, Janet E. (1994). A picture book reading intervention in day care and home for children from low-income families. In Developmental Psychology, 30(5), S. 679–689.>
Weiterführende Literatur/Informationen
Titz, Cora (2017). Komm, wir erzählen uns eine Geschichte! Dialogisches Lesen in Kindertagesstätten. S. 4. Verfügbar unter: https://biss-sprachbildung.de/pdf/biss-broschuere-dialogisches-lesen-in- kitas.pdf [02.11.2020].
Wendland, Marlen (2020). Literacy – Anbahnung und Integration in den pädagogischen Alltag. Dialogisches Lesen – Vorlesen. Im E-Learning-Kurs: Sprache im Alltag und im Fach. Verfügbar unter: www.biss-fortbildung.de (passwortgeschützt) [02.12.2020].>
Bereits erschienen: Basiswissen sprachliche Bildung
Neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler
Sprachtransfer
Alltagsintegrierte sprachliche Bildung
Mehrsprachige Unterrichtselemente
Individuelle Mehrsprachigkeit
Erstspracherwerb
Zweitspracherwerb
Fremdspracherwerb
Leseflüssigkeit
Schreibflüssigkeit
Alphabetisierung in Deutsch als Zweitsprache
Sprachsensibler Unterricht
Schreibdidaktik
Leseförderung
Literalität